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Bibliotheca Hertziana [Hrsg.]; Bruhns, Leo [Gefeierte Pers.]; Wolff Metternich, Franz [Gefeierte Pers.]; Schudt, Ludwig [Gefeierte Pers.]
Miscellanea Bibliothecae Hertzianae: zu Ehren von Leo Bruhns, Franz Graf Wolff Metternich, Ludwig Schudt — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 16: München: Schroll, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.48462#0430
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426

Werner Hager

Bald nach seiner Ankunft in Paris besichtigte Bernini die Arbeiten an der Theatinerkirche Ste. Anne.
Er sah sich dem Werk eines Landsmannes gegenüber, der der Richtung seines Rivalen Borromini folgte,
beschränkte sich also zunächst auf eine unverbindliche Anerkennung. Dann war vom Verhältnis der
Höhe zur Breite von Kirchenräumen die Rede. Es dürfe nicht einseitig überschritten werden, weil man
sonst den Kopf allzusehr in den Nacken legen müsse, um das Raumbild aufzunehmen, meinte der Gast;
und schließlich noch, es würde sich empfehlen, der Front dieser Kirche einen Bauteil vorzusetzen, da
man nämlich beim Eintritt in einen Bau unwillkürlich erst nach sieben oder acht Schritten stehen
bleibe, wo sich dann bei einer „gänzlich runden“ Kirche kein befriedigender Anblick der Form mehr
biete.
Bernini fordert also, daß ein Innenraum sich zum „Bilde“ zusammenschließe, das von einem gewissen
Standort aus angeschaut werden kann. Dieser Anblick soll in ungezwungener Haltung genossen werden;
so ruft die Harmonie des Gebäudes im Betrachter ebenbildlich einen ausgewogenen Zustand hervor.
Zweitens aber darf das Raumbild den Eintretenden nicht gleich auf der Schwelle überfallen; es soll sich
erst nach einem psychologisch wohlberechneten Übergang ergeben. Tatsächlich eröffnen Berninis eigene
Zentralbauten ihre volle Innenansicht erst nach dem Durchschreiten eines unmerklich vorgeschalteten
Raumstreifen s27.
Durch die sorgfältige Ausbildung der „Schwelle“ zwischen Innen und Außen wird dieser Übergang
betont, und zwar als vermittelnde Überleitung. Damit ist aber auch das Verhältnis von Innen und Außen
qualitativ bestimmt. Diese beiden Bereiche bedeuten sinnvoll aufeinander bezogene, nur graduell unter-
schiedene Stufen einer und derselben Wirklichkeit, die das Raumerlebnis in seinem Ablauf übergreift.
Der Bau und sein Vorfeld, geformter und ungeformter Raum, Kunst und Leben überhaupt sind einer
Natur, die in Bewegung erfahren wird. Sie stoßen einander nicht ab, sondern bedingen sich gegenseitig;
jede Form braucht eine Situation im vorkünstlerischen Bereich, um sich darzustellen, ja die Selbstdar-
stellung des Lebens kann schon in Kunst übergehen. Solche wechselseitig förderlichen Verhältnisse
werden von der Architektur der Zeit reich und vielfältig ausgebildet; diesem unbefangenen Vordringen
aus dem Dasein in die Idealität dankt der Barock seine weltgestaltende, die Barockarchitektur ihre
raumbezwingende Macht. Auch eröffnet sich ihr auf diesem Weg von Stufe zu Stufe das Jenseits, das
seinen von der Kunst bereiteten Vorhöfen aus der Tiefe entgegendringt. Das Sein ist Einheit im Über-
gang und von unendlicher Dimension. Aus solchem Wirklichkeitsverständnis geht eine naturvertraute,
im Tiefsten naive, „naturalistisch“ zu nennende Kunst hervor.
Auch Guarinis Architektur ist barock. Auch sie erstrebt das anschauliche Sinnbild einer bewegten, auf
Transzendenz hin geöffneten Welt und bedient sich dazu der Sprache des Raumes. Allein jene klassisch
naive Hinnahme der Natur der Dinge, aus der Berninis organisch empfundene Form hervorgeht, jenes
Zutrauen zur kontinuierlichen Einheit des Seins teilt Guarini nicht. Seine Form gibt sich nicht als ideali-
sierte Natur, obwohl auch sie aus den klassischen Ordnungen entwickelt ist, vielmehr als ein Anderes,
als eine „zweite“ Natur aus eigenem, nicht einfachhin der Physis entlehnten Gesetz. Und Raum ist auch
nicht wie dort auf beinahe noch antike Weise jedes gestaltend eingegrenzte Offene28, sondern durchaus
nur geschlossener Innenraum. Dieser wiederum stellt sich nicht als „Bild“ dar, nicht als eine auf den
Menschen als Gegenüber bezogene optische Projektion. Er wirkt als allseitig umgebende Präsenz, mit
einer Vielzahl von Anblicken ringsum, die den Eingetretenen zu angespannter Mittätigkeit, zur Bemü-
hung des Ordnens und Verstehens auffordern. Diese Innenwelt ist von der draußen zurückgelassenen
radikal verschieden und mit ihr durch keine Übergänge verbunden; beim Eintritt erfolgt die Verwand-
lung nicht schrittweise, sondern wie auf einen Schlag. Wer die Schwelle von S. Lorenzo überschreitet,
steht alsbald im Bannkreis von Ereignissen inkommensurabler Art. Das Gewände bildet sich gleichsam
vor seinen Augen im polyphonen Zusammenspiel von Hohlkörpern, die wie aus der Tiefe auftauchen,
zum beinahe schwerelosen Gerüst. Das Numinose wird nicht bildhaft geschildert, sondern bekundet sich
in der unfaßbaren Bewegung des Bauleibes selbst und in dem aus der Höhe herabwirkenden Lichter-
eignis. Nicht von ungefähr bevorzugt Guarini den Zentralbau, und zwar in der Form des Kreises oder der
bien qu’il y eüt quelque partie qui avanyät sur le devant, parce que les eglises qui sont rondes tout ä fait, quand on y entre, on
fait ordinairement sept ä huit pas, ce qui empeche qu’on n’en puisse pas bien voir la forme.“
27 H. Brauer und R. Wittkower, Die Zeichnungen G. L. Berninis, 1931, S. 124, Anm. 2.
28 W. Hager, Über Raumbildung in der Architektur und in den bildenden Künsten. Studium Generale X, 1957, S. 635.
 
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