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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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4. Heft
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Buss, Georg: Handzeichnungen moderner Meister
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0125
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MODERNE KUNST.



sechstausend
Zeichnungen,
Studien und
Skizzen aller
Art, die den
eisernen Fleiß
und den ehr-
lichen Willen
des Geschmäh-
ten, der Natur
möglichst nahe
zu kommen,
glänzend be-
zeugten.
Der Vor-
wurf, daß Dela-
croix im Zeich-
nen eine Null
gewesen sei,
hatte schlagen-
de Widerle-
gung gefunden
— die vermeint-
liche Schwäche in seinen Bildern war eben nur die Konsequenz eines durchaus
koloristischen Empfindens, dem sich die Zeichnung beugen mußte. Guten Muts
hätte er auf berühmte Vorgänger hinweisen können, gehörte doch die Ausbildung
des Kolorits und des spezifisch malerischen Reizes auch zum höchsten Ziel der
Venezianer. Wegen Bevorzugung der Farbe hat Vasari den Vorwurf mangel-
hafter Zeichnung sogar gegen Tizian erhoben. Freilich, lächerlich wäre die
Annahme, daß Tizian und Giorgione oder Palma keine auf gewissenhaften
Studien beruhende Formenkenntnis gehabt hätten: diese galt als so selbstver-
ständlich, daß ihr Vorhandensein gar nicht bezweifelt wurde. Vasaris Rüge will
eben nur besagen, daß Tizian der Farbe zuliebe die Zeichnung vernachlässige —
ein Körnchen Wahrheit, das nicht imstande ist, den Glanz dieses größten Kolo-
risten der Renaissance zu trüben.
Einer absolut genauen Ausbalancierung zwischen Licht, Farbe und Zeichnung
würden ewig gültige Bilder entwachsen. Die Verwirklichung dieses Traumes
bleibt zum Glück für alle Ewigkeit versagt. Damit die Geschichte nicht zu lang-
weilig wird, gewinnt immer einer der drei Faktoren, wie der Verlauf der Kunst
beweist, das Übergewicht. Heute ist es ebenso. Der moderne Impressionismus
bevorzugt die atmosphärischen Phänomene der Beleuchtung. Ihm sind Menschen,
Dinge und Vorgänge besonders interessant in ihren Beziehungen zu Licht und
Luft. Wie steht’s da mit der Zeichnung? Nun, die Iuminösen Naturerscheinungen
spielen sich meist mit solcher Schnelligkeit ab,
daß der Künstler aus Mangel an Zeit beim Fest-
halten und Wiedergeben des im Fluge gewonne-
nen Eindrucks die Zeichnung kaum anders als
anzudeuten vermag. Aber mehr noch: allzuviel
Zeichnung würde auch den Eindruck der Le-
bendigkeit, des Beweglichen, des Fließenden,
kurzum, die impressionistische Stimmung stören.
Und so ist selbst da, wo volle Ruhe zu gründ-
lichem Studium der Natur gegeben war, an einer
gewissen Flüchtigkeit oder scheinbaren Nach-
lässigkeit der Zeichnung festgehalten. Den Im-
pressionismus hiermit zu seinem Nachteil be-
lasten zu wollen, geht angesichts seiner emi-
nenten Leistungen nicht an. Mögen die Nörgler,
wie früher bei Delacroix, über die Zeichnung
Zeter und Mordio schreien — der Impressionis-
mus zieht großmächtig über sie hinweg zu wei-
teren Siegen.
Diese Nörgler . . . Manche versichern, die
modernen Künstler könnten überhaupt nicht
zeichnen. Ein hervorragender Anatom hat sie
sogar absichtlich begangener Fehler gegen die
Anatomie geziehen. Schrecklich! Vergessen wir
doch nicht, daß es nicht allein poetische, sondern
auch künstlerische Lizenzen gibt. Weder die
vielgepriesenen Meister der Antike, noch der
gigantische Michelangelo haben sich beim Form-
bilden, wenn es ihnen notwendig erschien, vor
Sünden gegen die Anatomie gescheut. Und wenn
gewisse antike Marmorgestalten, wie der Lao-
koon, dessen einer Oberschenkel kürzer als der
andere ist, oder der Apoll von Belvedere, dem
der Kopf nicht in der Mittelachse aufsitzt, als
lebendige Wesen Bewegungen vollführen und
gehen sollten, so dürften sie kaum in der Lage

Max Klinger: Hetäre. Aus dem Werk „Meister der Zeichnung“

sein, solchem
Befehl mühe-
los Folge zu
leisten. Und
doch sind es
Werke, vor de-
ren Schönheit
sich jeder in
Bewunderung
neigt
Unsere mo-
dernen Künstler
können schon
zeichnen, auch
das Nackte, ob-
wohl die christ-
liche Weltan-
schauung das
störende Fei-
genblatt und
das neuzeitliche
Kostüm mit
verbergender
Hülle und beengendem Zwange geschaffen hat. Gewiß war dem antiken Künstler
weit mehr Gelegenheit geboten, das Nackte zu sehen, nicht nur am Modell,
sondern draußen in hellem Licht und frischer Luft, in voller Freiheit, Natürlich-
keit und Ungeniertheit. Um so höher das Verdienst der modernen Künstler, die
trotz aller Schwierigkeiten unentwegt am Studium des Nackten festhalten und
in dessen Darstellung eine der vornehmsten Aufgaben der Kunst erblicken.
Die Liebermann, Stuck und Klinger führen die Nörgler erst recht ad ab-
surdum. Das beweisen die in dem Werk „Meister der Zeichnung“ von Professor
Dr. Hans W. Singer (Verlag von Baumgärtners Buchhandlung, Leipzig) heraus-
gegebenen 3 Bände, die diesen oben genannten Künstlern gewidmet sind. Graphit,
Kohle, Kreide, Feder, Griffel und Tusche wurden in der Hand Liebermanns, Stucks
und Klingers zu fesselnden Zaubermitteln; und die zahlreichen Reproduktionstafeln
dieser Bände in bestem Lichtdruckverfahren, geben dem Leser einen guten Ein-
druck vom Wesen dieser Künstler und besitzen fast den Reiz der Originale. Die Ein-
führung bilden die Einleitungen Professor Dr. Singers, die den einzelnen Bänden
vorausgeschickt sind. Interessante Eigenart, Feinheit der Naturbeobachtung, male-
risches Empfinden, außerordentliche Technik, hingebender Fleiß spiegeln sich in
den Blättern wieder. Auch die rühmliche Tatsache ist spürbar, daß gerade die
deutsche Kunst es gewesen ist, die vor Jahrhunderten die Zeichnung zur selb-
ständigen Kunstgattung erhoben und ihr mit Hilfe des Holzschnitts und Kupfer-
stichs universelle Verbreitung verschafft hat.
Etwas von jener sorglichen Liebe zum Eingehen
ins Einzelne, von jenem Hang zum Grübeln und
Phantasieren, von jener Lust am Fabulieren und
Erzählen, wie es schon vor Dürer so herzerbau-
lich zum Vorschein kommt, ist eben bis auf den
heutigen Tag geblieben. Selbst der modernste
deutsche Künstler vermag sich solcher traditio-
nellen Einwirkung nicht ganz zu entziehen. So
erscheint die gespendete Garbenfülle als Ergän-
zung der großen Kunst eines Liebermann, Stuck
und Klinger im höchsten Grade wertvoll, viel-
sagend und anregend.
Klinger ist mit Feder- und Tuschzeichnungen
vertreten. Es sind Einzelblätter aus dem Besitze
der Königlichen Kupferstichkabinette zu Berlin
und Dresden und des Museums für bildende
Kunst zu Leipzig. Manche von ihnen haben als
Studien und Vorläufer zu seinen Radierungen ge-
dient. Daß Feder und Tusche besonders adäquate
Ausdrucksmittel seines künstlerischen Empfin-
dens sind, ist hinlänglich bekannt. Sein Fühlen
und Denken weiß er in dieser Technik mit sug-
gestiver Macht zu künden. Und was er kündet,
sind Wahrheiten, vor deren Wucht selbst die-
jenigen sich gebeugt haben, die vordem in ihnen
Gift sahen. Gleich seine erste Arbeit dieser Art,
der im Jahre 1878 ausgestellte Zyklus „Ratschläge
zu einer Konkurrenz über das Thema Christus“,
erregte Aufsehen: die einen entrüsteten sich über
die aller hergebrachten Sentimentalität bare Auf-
fassung, die anderen priesen sie als originelle
Offenbarungen eines tiefsinnigen Kopfes, die
meisten aber waren einig in dem Urteil, daß die
Technik überrasche. Die Nationalgalerie in Berlin
fand sich bewogen, den Zyklus anzukaufen. Wie

Franz Stuck: Ringeltanz. Aus dem Werk „Meister der Zeichnung“.
 
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