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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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7. Heft
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Goedicke, Elisabeth: Der Kofferträger: Weihnachtsskizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0203
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MODERNE KUNST.

MODERNE KUNST.

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•:a\

Weihnachtsskizze von Elisabeth Goedicke.

er Schnellzug hatte
nur einen Augen-
blick auf der kleinen
Station gehalten und
raste nun weiter in die
feuchte Dunkelheit des
Dezemberabends hin.
Aus seinen Fenstern
fielen noch huschende
Lichtscheine auf den
Bahnsteig. Dann lag
dieser plötzlich
im Dunkel, und
Harriet Tann-El-
liesen, die große Sängerin,
kam sich vor wie mitten aus
dem Strudel der Weltstadt
und des großen Lebens auf
diesen kleinen^ einsamen
Bahnhof verschlagen, denn
n dem ziemlich besetzten
D-Zug war sie gewisser-
maßen noch davon umgeben
gewesen. Sie hatte in dem
Speisewagen gegessen, und
man hatte sie erkannt und ihr Platz gemacht
wie einer Fürstin. Junge Mädchen hatten im Gang
Spalier gebildet, um sie zu sehen, einen freundlichen
Blick von ihr zu erhaschen; und mit den beiden Herren,
mit denen sie das Kupee teilte, war sie bald in ein an-
geregtes Gespräch gekommen. Nun aber stand sie plötz-
lich allein hier auf dem halbdunklen Bahnhof der kleinen
Stadt, auf dem der D-Zug nur hielt, weil mehrere Ritter-
güter und ein großes Sanatorium in der Nähe lagen. Sie hatte
Schirm und Reisetasche in der Hand, während der lederne Koffer,
den einer der Herren ihr dienstbeflissen aus dem Zuge gehoben
hatte, zu ihren Füßen stand.

Koffer und ging damit davon,
einen Augenblick stehen blieb

„Gepäckträger!“ rief sie mit ihrer vollen, klingenden Stimme,
aber es war keiner in der Nähe zu sehen; nur ein paar Leute,
die aus der dritten Klasse ausgestiegen waren, hasteten mit Hand-
gepäck beladen an ihr vorbei, und der Stationsvorsteher ging langsam
dem Bahngebäude zu.
Sie war dem Weinen nahe vor nervöser Abspannung. Sie war so
abgehetzt, so müde und zermürbt von der anstrengenden Saison, von all
den Aufregungen ihres Ehescheidungsprozesses, daß sie sich auf diese
stillen Weihnachtstage sehr gefreut hatte. Es würde doch mal ganz etwas
anderes sein, hatte sie gedacht, ein paar stille Tage bei ihrer leidenden
Schwester in dem Sanatorium zuzubringen — andere Umgebung, andere
Eindrücke —, ein völliges Ausruhen. An friedliche Landschaft hatte sie
gedacht, an weite Blicke über Feld und Wiesen, an Sonnenuntergang
oder verschneiten Tannenwald —• aber nicht an ein tristes Dastehen auf
einem zugigen Bahnsteige, nicht an solche Lächerlichkeit, keinen Gepäck-
träger zu finden. Sie fröstelte und zog sich den breiten Pelzkragen
fester um die Schultern, während sie den roten Lichtern des davoneilen-
den Zuges fast sehnsüchtig nachsah.
Plötzlich tauchte jemand aus der Dämmerung auf, griff nach dem
Das kam so überraschend, daß sie noch
und dem Manne nachsah. Er hatte den
Hut vor ihr gezogen und etwas gesagt, aber sie hatte ihn nicht verstan-
den. Nun ging er ziemlich schnell, und es wurde ihr auf einmal klar,
daß es kein Gepäckträger war, sondern ein wildfremder Mensch, der
mit ihrem Koffer davonging, in dem all ihre Juwelen waren und die
Weihnachtsgeschenke für ihre Schwester. Blitzartig schoß ihr durch
den Kopf: der Mann wußte das, war ihr schon von Berlin her gefolgt,
hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich ihres Handkoffers zu be-
mächtigen, vielleicht sogar die Gepäckträger entfernt — man las ja so
oft dergleichen. Und wenn ihn erst die feuchte Dunkelheit geschluckt
hatte, die dieses kleine Bahnhofsgebäude umgab, dann war er auch nie
wiederzufinden, davon war sie überzeugt.
Sie war einen Augenblick wie gelähmt, dann kam Leben und Be-
wegung in sie, sie stürzte ihm nach und eri'eichte ihn in dem erleuchteten
Wartezimmer. „Wo wollen Sie mit dem Koffer hin! Das ist mein Koffer!“
Ihre ganze Empörung und Erregung zitterten in ihrer Stimme, und sie
faßte den Handgriff ihres Koffers, um ihn dem Manne zu entreißen.
Der sah jetzt zu ihr auf, denn er war etwas kleiner als sie, und
lächelte: „Ich wollte ihn Ihnen nicht fortnehmen. Ich hörte, daß Sie ver-
geblich nach einem Gepäckträger riefen, und da heute keiner hier ist,
wollte ich Ihnen den Koffer hereinbringen.“
Das wurde mit so einfacher Freundlichkeit gesagt, daß sie beschämt
ihre Hand zurückzog und auch lächelte. „Wir Großstädter sind so leicht
mißtrauisch und glauben nicht an eine uneigennützige, gute Absicht
unserer Mitmenschen. Ich bitte Sie sehr um Entschuldigung und danke
Ihnen sehr.“ Dem Gesicht gegenüber, in dem Humor und Güte lagen,
war jeder Zweifel in ihr geschwunden, und wie zu einem guten Be-

[Nachdruck verboten.]
kannten fuhr sie fort: „Ich habe nicht gedacht, daß es hier keine Gepäck-
träger gibt.“
„Meistens sind hier welche, aber am Tage vor Weihnachten haben
sie wohl andere Arbeit, die mehr lohnt.“
„Dann muß ich mir einen Wagen nehmen“, sagte sie kurz entschlossen.
„Wagen sind hier jetzt schwer zu haben.“
„Ja aber — was mache ich denn da?“ sagte sie nun etwas unge-
duldig und runzelte die Stirn. Sie war so gar nicht gewöhnt, daß sich
ihr solche kleinen Hindernisse in den Weg stellten. Immer waren Autos
oder Wagen da, wenn sie sie brauchte, und helfende Hände streckten
sich aus, sie hineinzuheben, ihr alles abzunehmen.
„Wo wollen Sie denn hin, wenn ich fragen darf?“
„In das Sanatorium von Dr. Wehlen.“
„Würde es Ihnen zu viel sein, eine halbe Stunde zu Fuß zu gehen?“
Sie dachte nach. Eigentlich war es ja ein merkwürdiges Ansinnen,
wTas da an sie gestellt wurde — eine halbe Stunde bei feuchtem, dunklem
Wetter auf einer schmutzigen, einsamen Landstraße zu gehen. Aber
schließlich hatte sie ja etwas anderes gewollt, als das Leben in Berlin
ihr bot, und so sagte sie etwas zögernd: „Vielleicht wäre es sogar ganz
angenehm nach der langen Bahnfahrt. Es war so heiß im Zuge —“
„Ja gewiß, und den Koffer trage ich Ihnen.“
„Sie gehen auch dorthin?“
„Nein, eigentlich nicht, aber ich habe gerade Zeit und kann das gut
besorgen. “
„Aber das kann ich ja gar nicht annehmen.“
„Nicht? Das wäre doch schlimm, wenn wir Menschen solche kleinen
Gefälligkeiten nicht voneinander annehmen könnten.“
Das wurde wieder in der einfachen, ruhigen Freundlichkeit gesagt,
die so erstaunt, weil sie so selten ist, und die eigentlich jede Gegenrede
von selber abschneidet.
Sie gingen nun durch die stillen Gassen der kleinen Stadt, schritten
über den Marktplatz mit dem holprigen Pflaster und bogen dann in eine
kurze Straße ein. Ilübsche Häuschen lagen da, mit kleinen Säulenvor-
bauten und weißen Bänken vor der Tür. Sie stammten wohl alle aus
derselben Zeit, denn sie waren fast im gleichen Stil gebaut. Wo ein
Fenster erhellt war, war ein altmodisches Rouleaux davor herabgelassen.
Man hätte ja auch sonst von draußen das ganze Zimmer übersehen
können, so nah ging man daran vorbei.
„Man möchte an die Scheiben klopfen“, sagte Harriet Tann-Elliesen
lachend, „man möchte in eins der Häuser hineingehen, sich zu den Leuten
setzen und mit ihnen Bratäpfel essen. Hier denke ich mir ein paar alte
Fräuleins, die Missionsstrümpfe stricken und abends ihr Whistkränzchen
haben. Und hier einen alten Oberförster, der mit seiner unverheirateten
Tochter und ein paar Teckeln zusammen lebt. Ach, von jedem Hause
könnte ich mir so etwas denken.“
„Ja," sagte ihr Begleiter, „aber im Grunde denken Sie sich doch
alles harmloser und friedlicher, als es in Wirklichkeit ist. Auch in einer

kleinen Stadt haben die Menschen ihre
Kämpfe und Sorgen.“
„Möglich. Aber lassen Sie mir bitte meinen Irr-
tum. Es ist so schön, zu denken, daß es irgendwo auf
der Welt noch friedlich und harmlos ist.“ '
Sie waren auf die Landstraße gekommen, und zu beiden Seiten
ihres Weges dehnten sich weite Felder aus. Die Dunkelheit lastete noch
nicht so schwer und undurchdringlich darauf, daß man das Gefühl für
ihre Weite verloren hätte. Die müde, so viel gefeierte Frau, die aus der
großen Welt kam, hätte die Arme ausstrecken mögen und sich dieser
Ruhe und Weite hingeben, die um sie war, dieser Kühle und Frische,
die wie etwas Befreiendes auf sie wirkte. Und sie vergaß dabei fast den
Mann, der neben ihr ging, der so ruhig und freundlich war und ihren
Koffer eine halbe Stunde über Land trug, weil er fand, daß man sich
untereinander solche kleinen Gefälligkeiten erweisen sollte, ohne viel
Worte darüber zu machen. Er störte sie auch gar nicht in ihren Ge-
danken, bis er plötzlich, als sie unwillkürlich ein schnelleres Tempo an-
geschlagen hatte, stehen blieb und ihren Koffer absetzte. „Wenn es
Ihnen recht ist, möchte ich eine kleine Pause machen“, sagte er.
Nun war sie ganz beschämt. „Verzeihen Sie, ich habe nur an mich
gedacht und Sie und Ihre Freundlichkeit ganz vergessen. Jetzt machen
wir aber eine lange Pause, damit Sie ausruhen können.“
Er hatte den Koffer gegen einen Baum gestellt und forderte sie auf,
sich zu setzen. Sie fühlte sich so erfrischt von der Luft, daß sie eine
Ruhe gar nicht nötig hatte; aber seinetwegen setzte sie sich, und erließ
sich auf einen Stein in ihrer Nähe nieder.
Nun sagte sie ihm doch, daß sie sich unbescheiden vorkäme, seine
Freundlichkeit angenommen zu haben; sie hätte doch ihren Koffer vom
Sanatorium aus holen lassen können oder morgen danach schicken oder
versuchen, einen Wagen zu bekommen.
Aber er schüttelte den Kopf und sagte: „Machen sie sich darüber
keine Sorgen, es ist nicht das erste Mal, daß ich Kofferträger spiele.“
Und als ein fragender Blick von ihr ihn traf, fuhr er fort: „Mir fiel eben
ein kleines Erlebnis ein, das ich vor Jahren hatte.“ Er sah lachend in
die Ferne, als sähe er dort Bilder aus der Vergangenheit auftauchen.
„Erzählen Sie es mir“, bat sie.
„Gern“, sagte er, „aber ich muß Ihnen dann vorher sagen, wer ich bin,
und das ist eigentlich schade. Es liegt solch ein Reiz darin, sich mal ganz un-
befangen gegenüber zu stehen, nur als Mensch dem Menschen, nicht wahr?“
„Ja“, sagte sie mit Überzeugung, „das ist für mich sogar geradezu eine
Erholung. Aber wenn es nicht anders geht, dann sagen Sie mir, wer Sie
sind, und erzählen Sie.“ Sie war jetzt voll Interesse für den Mann. „Ich
freue mich auf Ihre Geschichte, wie ein Kind aufs Weihnachtsmärchen.“
„Eine Art Weihnachtsmärchen ist es auch. Also ich bin Pastor —“
Harriet Tann-Elliesen sah ganz erschrocken erst ihn an und dann
ihren Koffer. Er lachte nur und erzählte weiter. „Vor vielen Jahren
war ich Hilfsprediger in einem Orte, wo es sehr viel Armut gab. Ich
 
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