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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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8. Heft
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Lautensack, Heinrich: Das Märchen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0255
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io8

MODERNE KUNST.



Plauderei von Heinrich Lautensack.

wieder seine Auferstehung in verjüngter
Gestalt erlebt, wozu auch die moderne
Illustrations- und Buchschmuckkunst ihr
Teil beitragen. In der Tat ist da sehr
viel Erfreuliches zu konstatieren, und
es gibt heute bereits eine ganze Menge
guter Ausgaben. Freilich die größte
Schwierigkeit bietet die Illustration!
Soll man Märchen überhaupt illu-
strieren? — Wer diese Frage ernsthaft
aufwerfen wollte, würde von allen
Seiten mit Recht schallend ausgelacht
werden. Märchen ohne Bilderschmuck
— war das nicht ebenso grausam wie
ein Kindergedicht ohne Reime?
Also dieser Punkt bedarf keiner
Silbe weiterer Erörterung: Illustration
muß sein! — Aber eine moderne Mär-
chenbuchausgabe verlangt auch eine
moderne Griffelkunst, und da muß sowohl
gegen jeden absoluten Kitsch als auch
gegen jene sich modern gebärdende Eier-
nudel- und Bandwurmmanier gleicher-
weise energisch vorgegangen werden.
In diesem Betracht muß man speziell
der Gerlachschen Jugendbücherei (im
Verlag Gerlach und Wiedling, Wien und
Leipzig) Anerkennung zollen: hat dieses Unternehmen doch graphische Künstler
wie Hugo Steiner (Prag), Karl Fahringer, Ernst Liebenauer, Franz Wacik und Otto
Tauschek mit der Herstellung der Bilder und des Buchschmucks betraut ....
Dabei sah die Leitung des Verlags in dankenswerter Weise darauf, daß
sich jeder der Künstler immer in möglichst verschiedenen Techniken neuzeit-
licher Graphik betätigte, was dem unterschiedlichen Charakter und besonderen
Stimmungsgehalt des einzelnen Märchenstücks ebenso wie dem Gesamteindruck
des Buches zugute kommt.
Und ob man nun in den deutschen Sagen von den Brüdern Grimm blättert
oder in deren (zwei Bände umfassenden) Sammlung der Kinder- und Haus-
märchen liest, ob in Andersens Märchen schmökert oder in Goethes Reineke
Fuchs, in den ausgewählten Märchen von Wilhelm Hauff stöbert oder in den
Fahrten und Abenteuern des Freiherrn von Münchhausen: man wird einfach
wieder jung, und es tut einem wahrhaft die Wahl weh. Am liebsten möchte
man sie alle alle alle noch einmal ganz von vorne lesen ....
Übrigens was diesen letzteren Freiherrn von Münchhausen betrifft, diesen
großen Aviatiker, den man bisher stets der gröbsten Aufschneiderei zieh: lest
ihn, lest ihn! — Er dünkt mich in diesen Tagen besonders aktuell, nachdem er
durch den Sturzflieger Pegoud kürzlich so glänzend gerechtfertigt wurde! — Ja
noch in einer anderen Weise ist er hochmodern; denn einzelne Münchhausensche
Abenteuer schreien doch geradezu nach einer „Trickaufnahme“ durch den Kinemato-
graphenapparat! Dann würden sich Sage und Märchen unwillkürlich mit dem
neusten Element verknüpfen, das sich der Unterhaltungstrieb erschaffen hat.

Aus Andersen: Das kleine Mädchen mit
den Schwefelhölzern.
Illustration von Husro Steiner.

) an ist der holden Märchenkunst, dieser bestrickenden Sonderart der er-
zählenden Dichtung, natürlich längst auch wissenschaftlich zu Leibe ge-
gangen. Und die Gelehrten haben glücklich herausgefunden, daß sich im
Märchen „die Überlebnisse des mythologischen Denkens in einer der Bewußt-
seinsstufe des Kindes angepaßten Form“ erhalten haben. Unser menschliches
Gemüt konnte und kann sich trotz aller inzwischen sehr gereiften Anschauung
immer noch nicht von den primitiven Vorstellungen des Dämonenglaubens und
des Naturmythus gänzlich emanzipieren. Der alte Glaube — oder vielmehr
Aberglaube! — zwar ist erloschen; doch übt er (so lautet die gelehrte Definition)
noch eine starke ästhetische Gefühlswirkung im Ewachsenen aus.
Was die Jahreszeit anbelangt, zu welcher wir Großen unwillkürlich am
meisten an dies kostbare Überbleibsel in uns erinnert werden, und wo auch die
Kleinen naturnotwendig am empfänglichsten für Märchen sind, so ist das die
Zeit der Wintersonnenwende. Um diese Zeit des kürzesten Tages und dafür
der längsten und bängsten Nacht ging unter den Heidnischen einst die dunkle
Mär von den Seelen der Verstorbenen am lebendigsten um: So spricht das
Märchen heute noch am lieblichsten zu unsern Sinnen um die heilige Weihnachtszeit,
die ja, als der Christenglaube zu uns kam, an Stelle des germanischen Julfestes
trat. Kein Wunder also, daß das Märchen auf dem Büchermärkte immer und immer

Aus Brüder Grimm: Des kleinen Volkes Hochzeitsfest. Illustration von Ernst Liebenauer.

Unsere

ißilder.

'T4i uf der letzten Großen Berliner Kunstausstellung haben einige farbige Holz-
te' schnitte Carl Alexander Brendels, zu denen das von uns wieder-
gegebene Blatt „Stromauf“ gehört, die Aufmerksamkeit der Kenner in hohem
Maße gefesselt. Mit wie einfachen Mitteln hat hier der Künstler eine starke
Stimmung wiedergegeben! Mächtig heben sich die Silhouetten der beiden kräf-
tigen Pferde, die offenbar einen schweren Kahn aufwärts ziehen, gegen das flache
Land und den Himmel, der mit bewegtem Wolkenspiel in zarten Tönungen den
größten Raum des Bildes einnimmt. Stromüber liegt mit Türmen, Windmühlen
und rauchenden Schornsteinen eine Stadt, die in
der Ferne gleich einem Kinderspielzeug anmutet.
* *
Die starke Stimmung musikalischer Ver-
sunkenheit, Erhabenheit und Weltentrücktheit
hat Hubert von Herkomer in seinem Ge-
mälde „Adagio“ festgehalten. Von der Wand
blickt die Totenmaske Beethovens, der durch
Leiden und innere Kämpfe zur Unsterblichkeit
stieg, auf den Spieler und den Flügel herab,
der das Zimmer beherrscht. Das Antlitz des
Spielers, das aus einer Mischung der Züge Franz

von Liszts und des Malers Herkomer selbst gewonnen zu sein scheint, ist von
schimmernder Helle wie von Verklärung umgeben. Achtlos liegt hinter seinem
Stuhle der Lorberkranz, dessen der Melodien-Entrückte nicht achtet.
* :5t
*
Einem weihnachtlichen Motive hat F. Zimmermann in „Christkindlein"
Ausdruck verliehen. Wie wir es auf Bildern der Renaissance ähnlich finden, hält
hier Maria das Christuskind auf ihrem Schoße, indessen Johannes der Täufer,
gleichfalls als Knabe, zur Seite steht und den Schlummer des Kleinen behütet.
Andächtig betrachten andere Kinder das Jesulein.
* *
*
Mit zarter Poesie weiß Martin Schöne
den „Haidezaub'er“ festzuhalten, während
der Mond über einer stillen weiten Landschaft
mit ihren Katen und der zurückkehrenden
Schafherde steht. — Die drohenden Wolken
„Vor dem Sturm“ verleihen J. Duprös Bilde
seine1 künstlerische Eigenart. Verlassen liegt
die Meeresküste; soeben eilt noch ein Schiff
zum sicheren Hafen, während ein anderes
bereits auf den Strand gezogen ist.
 
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