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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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17. Heft
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Kahle, A. W. J.: Allerlei vom Kuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0492
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^ Allerlei vom Kuß. 4^
Von A. W. J. Kahle.

«Jird die Frage aufgeworfen, wie alt ist eigentlich die Sitte des Küssens und
V wer hat sie zuerst eingeführt, so gehen die Ansichten der Gelehrten sehr
J auseinander. Benutzt man die Angaben der Bibel als geschichtliche Grund-
lage, so müssen wir auch dort einen beträchtlichen Zeitraum überschlagen, ehe wir
zur ersten, bestimmten Erwähnung des Kusses gelangen. Ob unsere Stammeseltern
Adam und Eva sich des Kusses zur Bekräftigung und als Beweis ihrer gegenseitigen
Liebe oder als Begrüßungsform bedient haben mögen, steht nirgends verzeichnet; wohl
aber ist des Kusses besondere Erwähnung getan, den Jakob der Rahel gab, als er sie
zum ersten Male sah.
Im Neuen Testament treffen wir hin und wieder einen Hinweis, so. auch des
Apostel Paulus, der die Gläubigen auffordert, sich mit einem heiligen Kusse zu be-
grüßen (2. Korinther 13, 12). Merkwürdigerweise scheinen in der neueren Geschichte
nicht etwa die heißblütigen Italiener und Spanier, oder aber die galanten Franzosen
die Sitte des Küssens zuerst bei sich eingeführt zu haben, sondern die allerorts als
steif und unnahbar bekannten Engländer, denn selbst der ernste Erasmus schrieb
folgendermaßen an einen Freund: „Die englischen Frauen und Mädchen sind aus-
nehmend hübsch und dabei sehr liebenswürdig; auch haben sie eine gar köstliche
Sitte bei sich eingeführt, nämlich die, daß sie bei jeder Begegnung dem Gruße einen
Kuß hinzufügen. Sie küssen bei der Begrüßung, sie küssen beim Abschied, sie küssen
dazwischen bei jeder günstigen Gelegenheit, die sich ihnen darbietet." Andere Berichte
aus jener Zeit bekräftigen noch diese Schilderung des Erasmus, so daß die Küß-
freudigkeit der Engländer bald einen interessanten Gesprächsstoff für andere Länder
bildete. Bis auf den heutigen Tag hat .sie sich ungeschwächt erhalten.
* H:
*
In keinem Lande der Welt wird dem Kuß eine so wichtige Bedeutung bei-
gemessen wie in Rußland. Dort ist er weit mehr eine Begrüßung, denn eine Lieb-
kosung. Bei öffentlichen Gelegenheiten, wie bei privater Begegnung, wird immer und
überall geküßt. Da küssen sich Väter und Söhne, küssen sich alte Generale und
küssen sich ganze Regimenter. Der Kaiser küßt seine Offiziere. Hat sich ein Korps

[Nachdruck verboten.]
Kadetten des Kaisers Anerkennung erworben, so wird der kaiserliche Kuß dem an-
führenden Knaben zuteil, der ihn seinem Nachbar, dieser wieder dem Nächsten und
so wieder weitergibt, bis sich die ganze jugendliche Schar geküßt hat. So war es
noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Rußland Sitte, den verstorbenen Kaisern auf
dem Paradebette die letzte Ehre durch einen Kuß auf den Mund zu erzeigen. An
jedem Sonn- und Feiertage, ebenso wie bei Familienfestlichkeiten küßt die junge
Herrin des Hauses nicht nur die weiblichen, sondern auch die männlichen Dienstboten,
und wenn letztere ihr gegenüber auch nur einen Handkuß wagen, so drückt sie ihnen
die Lippen auf die Wangen.
*
*
Daß der Kuß der Liebe der Kuß aller Küsse, der eigentliche Urkuß genannt
werden kann, wer wollte daran zweifeln? Zu den Zeiten, wo Rom noch keine Gesetze
gegen den Ehebruch hatte, gehörte der Kuß nur zu den geheimen Vorrechten einer
erlaubten Liebe, öffentlich aber wurde er als unanständig und sittenwidrig angesehen
und war überhaupt nur unter Hymens schützendem Szepter in dem intimen Heiligtum
des Hauses geheiligt. Er gehörte zu den Mysterien der Ehe.
Die ersten Eingriffe in die strengen Gesetze Roms in diesem Punkte erlaubten
sich die Herren Ehemänner selbst, indem sie sich die schicklichkeitswidrige Freiheit
nahmen, ihre Frauen in Gegenwart von Freunden und Freundinnen zu küssen. Diese
Überschreitung des strengen Gesetzes der Sitte machte zuerst so großes Aufsehen, daß
die römischen Schriftsteller der damaligen Zeit über deren Ursprung förmliche Unter-
suchungen anstellten, deren Resultate höchst betrübender Art und durchaus der poeti-
schen Natur des Kusses zuwiderlaufend waren. Die edlen Römerinnen tranken, wenn
sie einander besuchten, mit Energie und Ausdauer, und die verräterischen Männer
bedienten sich des Kusses, um den Frevel zu erforschen, welchen die resp. Gattinnen
in anerkennenswertem esprit de corps frischweg leugneten und in den geheimnisvollen
Räumen ihrer kleinen Salons und Boudoirs zu bergen bestrebt waren.
Der Kuß wurde von den Römern als eine feierliche, höchst ernsthafte und wich-
tige Handlung betrachtet. Nur Verlobten, Eheleuten und den nächsten Verwandten


Woldemar Friedrich: Die ersten Ansiedler am Müggelsee.
Verlag Neue- Photograph. Gesellschaft A.-G. Steglitz.
 
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