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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0642
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ollmoellers „Mirakel“ in der Inszenierung Max Reinhardts, vordem eine
Londoner Sensation, ist zum Schluß der letzten Theaterspielzeit noch eine
Berliner Sensation geworden. Der Zirkus Busch war allabendlich einem Massen-
andrang ausgesetzt, der mehrmals eine Verlängerung der Aufführungsserie nötig
machte. Der alte Mirakelstoff von dem Madonnenbilde, das sich belebt, aus
dem Altarschrein herniedersteigt und die Dienste einer treulos gewordenen, welt-
flüchtigen Nonne verrichtet, übt in der Vollmoellerschen pantomimischen Be-
arbeitung einen ganz sonderbaren Zauber aus; denn wenn es .auch richtig sein
mag, daß an den ersten Abenden vor allem die künstlerisch interessierten Kreise,
die der imposanten Reinhardtschen Regieführung oder der innigen Humperdinck-
schen Musik eine stärkere Teilnahme entgegenbrachten als dem alten Wunder-
stoff, das Haus füllten, so ist doch unzweifelhaft in den späteren Aufführungen
eine Schaumenge versammelt gewesen, die, für alle artistischen Raffinements ein
beträchtlich geringeres Verständnis zeigte, infolgedessen ihr Interesse hauptsäch-
lich auf die „Handlung“ konzentrierte und sich von deren schlichter Naivität
suggerieren ließ. Freilich trifft diese Beobachtung nur auf die gewissermaßen
religiöse Umrahmung der Pantomime, die Szenen im Münster, zu, in denen
Vollmoeller der Über-
lieferung ziemlich getreu
gefolgt ist. In den von
seiner eigenen Phantasie
ersonnenen weltlichen
Zwischenspielen, in denen
er in schnell wechselnden
Bildern der entflohenen
Nonne Liebeslust und
Leid schildert, erlahmte
die Teilnahme regel-
mäßig. Statt des Tat-
sächlichen der Vorgänge
rückte hier in den Vor-
dergrund der Aufmerk-
samkeit die Darstellung,
die in diesen Szenen
wesentlich auf den Schul-
tern von Mary Dietrich
und Ernst Matray ruht.
Eine seiner besonderen
Begabung für das Gro-
teske entsprechende Auf-
gabe hat Ernst Matray
mit dem Spielmann ge-
funden, der gleichsam
das Prinzip der Welt-
lust versinnbildlicht und
die Nonne von Begierde
zu Genuß und von Ge-
nuß zu Begierde peitscht.
Die groteske Art Matrays
streift vielleicht zu nahe
an die amerikanische
Exzentrikkomik und gibt
der Gestalt statt der inneren Dämonie mehr die äußeren Züge eines hohn-
lachenden Clowns. Aber in schauspielerisch-technischem Sinne ist er ungemein
wirksam, und man gönnt es dem Künstler, dessen Spezialitätenkunst bisher auf
den Reinhardtbühnen naturgemäß nur beschränkte Verwendung finden konnte,
daß er hier einmal Gelegenheit erhalten hat, sich voll auszuleben. k.
* *
*
Silbergerät. ,,. . . Dieselbe beschämende Wahrheit drängt sich auf, wenn
wir unsre Erzeugnisse mit denen unserer Vorfahren vergleichen. Bei so manchen
technischen Fortschritten sind wir im Formellen, ja, selbst im Angemessenen
und Zweckmäßigen weit hinter ihnen zurückgeblieben. Unsre besten Sachen sind
mehr oder weniger getreue Reminiszenzen; andre zeigen ein löbliches Bestreben,
die Formen von der Natur unmittelbar zu entlehnen; aber wie selten sind wir
glücklich darin gewesen! Das meiste ist verworrenes Formengemisch oder
kindische Tändelei. Höchstens an Gegenständen, bei denen der Ernst des
Gebrauches nichts Unnützes gestattet, als bei Wagen, Waffen, musikalischen
Instrumenten und dergleichen, zeigt sich zuweilen mehr Gesundheit in der Aus-
stattung und Veredlung der durch ihre Bestimmung streng vorgezeichneten
Formen.“ So schrieb Semper 1851 in seinem Promemoria für den Prinzen Albert,
das gleichsam das Fazit aus der ersten Londoner Weltausstellung zog und damit
dem Kunstgewerbe neue Wege wies. Um. die Bedeutung dieser Worte richtig
würdigen zu können, um zu begreifen, daß sie im Kunstgewerbe eine völlige
Umwälzung hervorrufen mußten, eine Revolution ganz andrer Art, als die rund
ein Vierteljahrhundert vorher in Deutschland durch Schinkels antikisierende
„Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker“ angebahnte, braucht man sich

nur an ein paar besonders markanten Beispielen zu vergegenwärtigen, welche
unglaublichen Ungeheuerlichkeiten das Kunstgewerbe damals hervorbrachte und
im Wettbewerb ausstellte. Da erschien u. a. ein Salzfaß — wir entnehmen diese
Einzelheiten einem Berichte v. Eyes — in- Form einer Wiege, die auf einem grün-
behangenen Amtstische stand, eine Wiege dagegen in Gestalt eines Salzfasses,
über das ein schwebender Engel mitleidig den Vorhang zu breiten schien, um
die verschuldete Geschmacklosigkeit zu verdecken. Eine Teebüchse hatte sich
auf die Wipfel zweier Eichbäume niedergelassen, die den Teil eines Waldes
bildeten, darin aber eine Hirschjagd vor sich geht. Löffel und Gabeln führten
neben der Speise eine ganze Geschichte der Ornamentik mit in den Mund. Zu
den abenteuerlichsten Gebilden aber gehörte ein aus einer ungeheuren Distel kon-
struierter Kandelaber. Unter dem gewundenen Gezweig dieser und über einem
Fuße im Barockstil vollzog sich — symbolisch — der Kampf des christlichen
Mittelalters gegen die heidnische Pfahlbauzeit, und zwar in zwei Abteilungen:
unten stritten die gezähmten Tiere gegen die wilden; darüber kämpfte ein
geharnischter Ritter gegen nackte Urmenschen! Seien wir ehrlich: auch heute
produziert ein rein industriell, fabrikmäßig im Großen betriebenes Kunstgewerbe
noch immer ähnlich
Monströses. Wir brau-
chen nur die Auslagen
gewisser Bazare und das
„geschmückte Heim“ —
dabei muß man durch-
aus nicht gleich an jene
Bronziermanie denken,
die unter der Devise
„Schmücke dein Heim“
fast ein Jahrzehnt gras-
sierte — so manches
Zeitgenossen betrachten,
um Parallelen zu finden.
Ein Buch, das wie „Der
Geschmack im Alltag“
von Jos. Aug.Lux mit je-
dem erdenklichen Plohn
und unerschrockenen
Worten dawider zu
Felde zieht, ist noch
heute als eine Kulturtat
zu betrachten. Neben
dieser blühenden
Schundindustrie freilich
ringt sich immer stärker
ein selbstbewußtes mo-
dern esKunstgewerbe ans
Licht, ein „Kunsthand-
werk“, bei dem der
Akzent auf beiden Wort-
teilen ruht, und das uns
künstlerische Persönlich-
keiten beschert, wie jene
frühe Epoche der Blüte
des Kunsthandwerks. Diese Epoche setzte (in Deutschland wenigstens) im fünf-
zehnten Jahrhundert ein, als mit dem Ausgang der Gotik Form und schmückendes
Beiwerk ein eng zusammengehöriges und sinnvoll ineinander verschmelzendes
Ganzes wurden. Freilich waren jene Tage für Deutschland die Zeit hohen Reich-
tums. „Wo ist bei euch,“ rief damals Aenea Sylvius, der spätere Papst Pius II.,
den Deutschen zu, „ein Gasthof, in dem man nicht aus Silber trinkt ? Welche —
ich will nicht sagen Edeldame, sondern Bürgersfrau prangt nicht mit goldnem
Geschmeide?“ Das meiste Hausgerät eines Nürnberger Kaufmanns bestand
damals, wie Calles berichtet, aus Edelmetall. Und Edelschmiede wie etwa der
Augsburger Johann Heinrich Manlich, der Nürnberger Johann Friedrich Hauer
und zahlreiche andre waren in ihren Entwürfen wie in ihrer Arbeit echte
Künstler. An solche Meister der Edelschmiedekunst wird man unwillkürlich
erinnert, wenn man das silberne Tafelgerät betrachtet, das der Däne Georg
Jensen, zweifellos eine der stärksten Persönlichkeiten unter den bedeutenderen
Kunstgewerblern unsrer Zeit, entwirft und treibt. Ein sehr glücklich gewähltes
Wort hat ihn den „dänischen Silberschmied“ benannt, weil er fast ausschließ-
lich das so liebenswürdig weich, so lustig festlich, so dezent vornehm sich
gebende Silber verwendet, und als der „dänische Silberschmied“ wird Jensen
vielleicht einmal in der Geschichte des Kunstgewerbes fortleben. Gerade bei
dem gesunden modernen Kunstgewerbe finden wir es häufig, daß seine Meister
von der großen Kunst den Weg zur Kleinkunst fanden. Und auch bei Jensens
Schöpfungen ist wohl überall der Bildhauer unverkennbar: ob er eine Brosche
treibt, einen Ring, eine Schüssel, einen Becher, eine Kanne — und was für köst-
liches Silbergerät seiner Werkstatt zeigen nicht unsre Bilder! -— überall ist ein



Ernst Matray als Narr in Reinhardt-Vollmöllers „Mirakel“. Phot. Willmger, Berlin.

XXVIII. 21. Z.-Z.
 
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