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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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21. Heft
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Spier: Tanz und Gesundheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0641
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272

MODERNE KUNST.



des Organismus mit Ermüdungsstoffen.
Die nun wirken im Gehirn störend und
verursachen dann allerlei komische,
unvernünftige Taten der Intoxizierten.
Man braucht es aber nicht so weit
zu treiben, bis man an die Grenze der
Leistungsfähigkeit gelangt. Bei den
Dauerntänzern, die üble Zufälle erleb-
ten, wird meist ein vorhergegangener
Alkoholexzeß zu konstatieren sein. Die
Wirkung des Alkohols und der Keno-
toxine aber können sich summieren
und dann die Erscheinungen auf dem
Gebiete der nervösen Zentren verur-
sachen.
Unsere modernen Tänze sind meist
sehr harmlos, wenn sie nicht, nach der
Meinung Vorgesetzter Behörden mit
hoch entwickeltem Mimosengefühl, die
Sittlichkeit verletzen. Die Körperlich-
keit tangieren sie gewöhnlich nicht,
wenn sie auch Tango heißen, was ja von
dem Worte tango = ich berühre, kom-
men soll.
Aber die Zusammenhänge von
Tanz und Gesundheit gehen doch weiter
zurück wie in die Neuzeit, von der so-
eben einige Beispiele gebracht wurden.
Es gibt Krankheiten, bei denen
direkt durch den Tanz Genesung erzielt
worden ist, und man darf ruhig behaup-
ten, wenn es auch paradox klingt, daß
die moderne Medizin zu wenig vom Tanz
als Heilmittel Gebrauch macht. Daß
die Stiche der Tarantel durch die nach ihr benannte Tarantella, wilden, leidenschaft-
lichen Tanz, unschädlich gemacht werden können, war früher ins Reich der Fabel
verwiesen worden. Aber die neuere Forschung hat sich eine Deutung machen
können. Wir wissen sehr wohl, daß bei diesem Tanze eine Erhöhung der Innen-
körpertemperatur entsteht. Nach dem Gesetze des genialen Physikochemikers
van t’Hoff aber gehen alle Reaktionen chemisch - physiologischer Art bei Er-
höhung der Temperatur schneller und wirksamer vor sich. Wir dürfen also an-
nehmen, daß die Giftstoffe des Tarantelstiches sich im Körper bei der Erhöhung
der Temperatur schneller unwirksam machen lassen. Sie werden zersetzt und
an Eiweißkörper gebunden, so daß sie harmlos sind. Es hinkt die Wissenschaft
von der Heilkraft des Tanzes der Empirie nach.
Auch die Negervölker haben uns die Heilwirkung des Tanzes gelehrt. Zuerst
berichteten oft Missionäre
und Forscher, daß die
Wilden Kranke tanzen
ließen, bis sie vor Er-
schöpfung niederbrachen.
Man knüpfte einen ironi-
schen Kommentar daran.
Aber die Tatsachen haben
den ,,ungeleckten" Wilden
recht gegeben. Auch diese
Kur, welche ja wohl eine
Gewaltmaßregel ist, wird
nach dem oben angedeu-
teten Gesetze van t’Hoffs
verständlich. Auch da
werden die Krankheits-
stoffe durch die innere Er-
wärmung, welche man ein
„künstliches Fieber“
nennen könnte, unschäd-
lich gemacht. Wir haben
es schon erlebt, daß man-
cher Schnupfen, manche
drohende Influenza nach
einer durchtanzten Nacht
wie weggeblasen war.
Alles Innenheizung des
Körpers. Man kann sich
natürlich, wenn man auf
dem Tanz in Transpiration
gekommen ist, auch er-
kälten. Aber das hat
mit dem Tanz allein nichts

zu tun. Erkälten kann man sich über-
all, wenn man in Schweiß ist. Die
Neger bedecken auch ganz folgerichtig
die erschöpften Tänzer mit Laub und
Matten, damit eben keine nachträgliche
schädliche Abkühlung bei ihnen ein tritt.
Die Tanzepidemien des Mittelalters
vertragen eine ganz andre Erklärung
als die übliche, wenn wir annehmen,
daß gerade diese Massensuggestionen
nicht Leiden, sondern Heilung hervor-
brachten. Die Tanzenden tanzten sich
gesund. Von einem Wahn oder von
einer Krankheit. Bekanntlich ist der
Münchner Schäfflertanz, welcher doch
eine historische Berühmtheit erlangt
hat, in den schlimmsten Pestjahren der
großen, lieben Bierstadt entstanden.
Die Schäffler, also die Bierfaßbereiter,
entschlossen sich, als aller Mut ge-
sunken war, als jeder fluchtartig die
Stadt verlassen wollte, um der Seuche
zu entgehen, durch spaßige Tänze den
Humor und den schwindenden Lebens-
rest der Münchner anzufachen. Es
gelang ihnen mit wundervollem Effekt.
Die Stadt soll von dem Tage des
Schäfflertanzes an den Feind, die
Seuche aus dem Orient, besiegt haben.
Und Saul, hat er sich nicht, wie
die Bibel berichtet, durch den nach-
maligen König David vortanzen lassen,
um von seiner Gemütsdepression befreit
zu werden ? Die ganze Historie weist
Fälle auf, wo durch den Tanz eine heilsame Wirkung auf die Depressionen großer
Männer ausgeübt wurde. Man hat sogar in manchen amerikanischen Irren-
anstalten diese alte Erfahrung sich zunutze gemacht und die harmlosen Kranken
tanzen lassen. Die Erfolge sollen, wie die Ärzte berichten, sehr beachtenswert sein.
Die Vorher stumpfen Patienten werden munterer, gesprächiger und auffassungs-
freudiger. Auch die dabei gespielte Musik hat einen Anteil am Resultat.
Sicher stecken in den Wirkungen des Tanzes Ansätze einer modernen Therapie.
Ich will hier nicht der Eröffner eines neuen Zeitalters werden, gekennzeichnet
durch die Einführung des Tanzes in den Methodenschatz der Mediziner. Jedoch
sollen sich die Therapeuten die Angelegenheit durch den Kopf gehen lassen. Wie
viele grämliche Menschen werden lustig, wenn sie „american girls" auf der Bühne
die Beinchen werfen sehen, wie viele Mädchen bekommen glühende Wangen,
wenn sie auf dem Bai päre
oder der Redoute sich die
Unannehmlichkeiten des
öden Daseins vergessen
machen. Und so kann
nicht nur seelisch auf die
Individuen gewirkt wer-
den. Auch die körper-
lichen Veränderungen, die
Stoffwechselumstimmun-
gen, welche durch syste-
matisches Tanzen bedingt
sind, müssen bei der Tanz-
kur verwandt werden.
Aber das soll der Zukunft
Vorbehalten bleiben. Die
Anfänge dazu sind jeden-
falls schon vorhanden. Die
Schulen Dalcrozes, Laban
de Varaljas, das Casseler
Seminar, die Duncan, Pro-
fessor Fritz Winther in
seinem neusten Werke
„Körperbildung als Pflicht
und Kunst“ (Delphinver-
lag München), — sie ver-
quicken den Tanz und die
Gesundheit aufs innigste.
Das alles kann hier nicht
weiter auseinandergesetzt
werden. Es würde zu weit
führen und erforderte eine
gesonderte Abhandlung.

Fritz Burger: Porträt des Staatssekretärs Dr. Solf. Große Berliner Kunstausstellung 191 4.

Paul Wilhelm Harnisch: Nach dem Bade. Große Berliner Kunstausstellung 1914.
 
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