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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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24. Heft
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Anwand, Oskar: Neue und neueste Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0726
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305

Heue und neueste Kunst

Von Dr. Oskar Anwand.


[ie jüngsten Richtungen der Kunst, die dem Impressionismus folgen, zeigen
ein wirres und buntes Durcheinander mit einem Tasten nach Zielen, die
5/ noch halb im Nebel schwanken. Das Bild, das die heutige Malerei in ihrer
Gesamtheit ergibt, ist etwa folgendes. Von der Kunst älteren Gepräges abgesehen,
hat selbst die Malerei mittleren, ruhigeren Stils jetzt den Einfluß des Impressionismus
erfahren, der sich in der Wiedergabe von Luft und Licht und in der flotteren Technik
kundtut. Für die Neuesten, Allerneuesten ist das aber ein längst überwundener Stand-
punkt. Wie in Berlin aus der Sezession die Neue Sezession hervorging, der wieder
der Sturm, die juryfreie Kunstschau usw. folgte, so entsprechen diesen Namen neue
malerische Methoden und Versuche. Man kann sich auf heutigen Ausstellungen mit
Leichtigkeit davon überzeugen, daß
ein wilder Gärungsprozeß vor sich geht,
und es ist angesichts dieser Arbeiten
vom Erhabenen bis zum Lächerlichen
oft nur ein Schritt.
Daß der Impressionismus eine so
breite Wirkung ausüben konnte, wird im
Hinblick auf seine Vorzüge begreiflich,
ebenso wie umgekehrt seine Schwächen
das Streben der Jüngeren erklären, ihn
zu überwinden. Durch ihn hatte sich die
Malerei an Naturfrische und Lichtfreude
neu bereichert; aber das Gebiet der
Kunst war nach der Seite der Wirklich-
keit überschritten. Man rechnet dem
Impressionismus als Schwächen an:
seine mehr nur aufnehmende als um-
schaffende Geistesstimmung und den
Mangel an kompositioneller Bildwirkung
in Form und Farbe, der sich bis in das
auflösende Element der Technik äußert.
Es waren also zwei Wege gegeben, über
den Impressionismus hinauszukommen:
einmal eine schaffende und gestaltende
Umarbeitung empfangener Eindrücke,
die also ihr Herausstellen aus der Geistes-
welt des Künstlers, den Expressionis-
mus, für wichtiger erachtet als den Im-
pressionismus, d. h. die Aufnahme des
Natureindrucks durch das Auge — und
ferner der Weg der Form. Daß nach
diesen beiden Richtungen schon Pioniere
ausgeschritten waren, zeigt ein Blick auf
Cezanne, van Gogh und Edvard Munch,
von denen die beiden letzten den Im-
pressionismus kraft ihrer Durchseelung
überwanden, während Cezanne bild-
statische Gesetze seinerMalerei zu finden
strebte und auf typische Formen ausging.
Der Beweglichkeit und Vielseitigkeit des
Impressionismus gegenüber ist ihnen allen
Vereinfachung, Primitivität gemeinsam.
Weit weniger als der Malerei war der Plastik das Zeichen des Impressionismus
aufgeprägt worden, was ja in dem Wesen dieser Kunst begründet liegt. Folgt sie doch
Gesetzen des Rühens in sich, die mit denen der Architektur eine gewisse Ähnlichkeit
haben; und ihr Material, vor allem der Stein, ist für die Wiedergabe spontaner Be-
wegung ungeeignet. Dennoch fand der Impressionismus auch in der Plastik seine
Vertreter. Auguste Rodin hat mit Vorliebe dahinfliegende und schwebende Ge-
stalten in scheinbar zufälligen Stellungen wiedergegeben und zugleich das Werden
und Sichentwickeln der Körper aus der übrigen Masse des unbeseelten Steins —
so z. B. in seiner bekannten Plastik „Die Hand Gottes“ — dargestellt. Damit wurden
die Grenzen auch dieser Kunst erweitert, aber freilich wiederum öfters überschritten;
jedenfalls kehrte neues Leben ein. Von deutschen Bildhauern, die eigne Wege gehen,
wäre an erster Stelle Ernst Barlach zu nennen, der glücklich aufgefangene Bewegung
mit Massigkeit der Form zu einigen weiß. Man verstand zunächst nicht recht, was
er mit seinen dicken Bauern und Bäuerinnen, offenbar polnisch-russischen Gepräges,
ausdrücken wollte. Aber allmählich wandelte sich ihre äußere Plumpheit mehr in
Einfachheit der Form, und der geistige Ausdruck nahm zu. In seinem „Spaziergänger“
sieht man eigentlich nicht nur diese Figur selbst, sondern zugleich ihr Umflossensein,
ihr Angebraustwerden vom Winde. Er schlägt den Mantelrock beiseite und drückt
ihn an die Schenkel des Schreitenden; ihm hebt sich dessen luftgebadetes Antlitz
entgegen, während seine Füße breit auseinander ruhen, um den Boden fest zu fassen.
Auf diese Weise war die Luft bisher kaum zu einem Faktor der Plastik gemacht


Ernst Bar lach: Spaziergänger.

[Nachdruck verboten.]
worden. Dabei ist es charakteristisch, mit wie wenig Mitteln Barlach den geistigen
Gehalt seines Werkes hinzuschreiben vermocht hat, und daß er als Material das Holz
wählte, das überhaupt in der modernen Plastik eine große Rolle spielt.
Als ein Überwinder des Impressionismus hat auch der Schweizer Ferdinand Hodler
die junge Generation in hohem Maße erregt. Dieser Künstler erstrebt einen monu-
mentalen Stil, der die konstruktive Linie betont, mit architektonischer Gliederung
arbeitet und auf einer geistig-schaffenden, halb Verstandes-, halb gefühlsmäßigen
Grundlage beruht. Der „Rückzug nach der Schlacht von Marignario“, die „Liebe“,
der „Frühling“, das „Lied aus der Ferne“ usw. sind Ideen- oder Empfindungsgehalte,
denen Hodler formalen Ausdruck verleiht. Ob diese Arbeiten aber aus Ursprünglichkeit
.. und schaffendem Reichtum geboren,
oder nur von einem kulturvollen, son-
dernden Geschmack zusammengefügt
sind, bleibt eine umstrittene Frage.
Wenn die Berliner Sezession Hodler
noch als den ihrigen aufnahm, so kam es
durch Max Pechstein zu der Gründung
der „Neuen Sezession“, in der die
Jüngsten sich zum ersten Male frei zei-
gen konnten. Zunächst schien Gauguin
ihnen als hauptsächlichster Leitstern
vorzuschweben, bis Cözanne und van
Gogh an seine Stelle traten, während
unter den Deutschen Ludwig von Hof-
manns Einfluß sich am stärksten erwies.
Max Pechsteins „Boot“ legt durch die
bang-visionäre Stimmung, aus der das
Kreisfenster an der Mauer des Boots-
hauses und die Kreise an dem Bug des
Kahns wie gespenstige Augen hervör-
leuchten, den Gedanken an Edvard
Munch nahe. Es fehlt dem Expressionis-
mus nicht an vielversprechenden Ta-
lenten. Je mehr er aber Zuversicht zu
sich selbst schöpfte, desto mehr wurde
auch dasVerstandesmäßige, Programma-
tische moderner Kunstbewegungen klar,
die aus ihren Theorien selbst die letzte
Konsequenz ziehen und dabei auch vor
dem Unsinn nicht zurückschrecken. Das
Gute war, daß man wieder einen kühnen
künstlerischen Ausdruck, sei es in geisti-
ger, sei es in formaler Hinsicht wagte.
Davon geben Wilhelm Jäckels Furioso
„Der Kampf“ und Richter-Berlins „Va-
riete“szene, die das eigenartige Fluidum
der Luft, gemischt aus Rampenlicht,
Zigarrenduft, Orchesterklängen und
Sinnlichkeit, zur Darstellung bringt,
zwei originelle Proben. Andere Expres-
sionisten schritten aber noch viel weiter.
Hatte der Impressionismus die Natur zu
engherzig wiedergegeben, ja in ihrer getreuen Spiegelung — was freilich nur von
den schwachen Malern dieser Richtung gilt — das Ziel der Kunst gesehen; so
schlug man jetzt nach der andern Richtung über jedes Maß und Ziel hinaus, um
auf den ebenso unberechtigten äußersten Gegensatz zu geraten. Man wollte nicht
mehr und nicht weniger, als der Natur überhaupt entraten. Sie sollte der Phantasie
des Künstlers selbst nicht mehr als Mutterschoß seiner Vorstellungswelt und
als Requisitenkammer dienen, sondern die Subjektivität des Malers sollte ihre
Formen und Gebilde — ja woher? — nun aus sich selbst schöpfen. Wenn die Kunst
bisher ein Kampf des Künstlergeistes mit Natur und Wirklichkeit, als den zu be-
zwingenden und zu harmonisierenden Gegenmächten war, so sollte sie jetzt ein Heraus-
fließen aus destillierter Malerseele, also gleichsam aus sich selbst sein. Man braucht
es kaum auszusprechen, daß der Weg dieser Formnihilisten in die Leere und ins Nichts
führen muß, weil der speisende Zufluß abgestellt ist.
In ebenso absurder Weise wird von einigen Radikalen die Primitivität, nach der
sich die moderne Kunst sehnt, mißverstanden und durch Übertreibung verzerrt. Das
Gute auch dieser Forderung ist bei zahlreichen Künstlern unverkennbar (wie man
auch das Verständnis für die schlichtere ägyptische Kunst im Gegensatz zu der bereits
realistischeren griechischen Kunst, das sich heute anbahnt, willkommen heißen kann).
Jede neue Kultur oder Kunst muß ein Übermaß der Formen, wie sie die letzte Epoche
geprägt hat, über Bord werfen, um nicht durch den Urväter-Hausrat beengt zu werden.
Man denke z. B. an Goethe, der sich vom Rokoko zur Einfachheit des deutschen Volks-

Aus dem Verlag
Paul Cassirer, Berlin.

XXVIII. 77.
 
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