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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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24. Heft
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Anwand, Oskar: Neue und neueste Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0727

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3°6

MODERNE KUNST.



liedes und eines Hans Sachs hinzuwandte. Nur freilich daß er mit diesen Mitteln, denen
er verborgene Geheimnisse entlockte, den Geist einer neuen und viel höher entwickelten
Zeit zum Ausdruck brachte. Für Gauguin bot die Welt der braunen Maoris die
Gelegenheit freilich mehr zu äußerer, stofflicher Primitivität, als zur Einfachheit des
Stiles. Seine Halbwilden machten aber auf die jüngeren Künstler einen starken Ein-
druck. Man ging bis zu den Negern herab, um sich an ihrer schlichten Kultur anzuregen.
Dagegen ließe sich im Prinzip wenig einwenden. Wenn z. B. ein Künstler erstünde,
der die hier schlummernden Keime zu einem solchen Leben erweckte, wie es Goethe
mit Hans Sachs getan hat — so würde man
seine Werke mit Freuden hinnehmen. In Wirk-
lichkeit aber handelt es sich gewöhnlich nur
um Nachahmungen, die noch unter den simplen
Originalen der Neger stehen, weil sich deren
geistige schicksalsmäßige Gebundenheit nicht
kopieren läßt. So stellen sich die Versuche dieser
Art vielfach als ein grelles Lallen dar, ange-
stimmt entweder aus dem Sensationsstreben,
die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, oder aus
Kulturmüdigkeit, die am schaffenden Weiter-
bauen verzweifelt.
Ebenso wenig wie der Expressionismus mit
seiner Richtung zum Geistigen, schreckte die
neue formale Bewegung vor den letzten Konse-
quenzen zurück. Es ist ja ein alter Traum der
Malerei, allgemein-gültige Gesetze, ähnlich wie
sie die Architektur kennt, aufzusuchen oder
die Formen von der Willkür des Künstlerauges
zu lösen und typisch-giltige Maße zu gewinnen.
Von Albrecht Dürers theoretischem Werk „Vier
Bücher von menschlicher Proportion“ abge-
sehen, hat der junge Raffael unter dem Ein-
fluß Fra Bartolomeos auf seinen Gemälden,
welche Maria mit dem Jesus- und Johannes-
Knaben darstellen, die Gestalten so angeordnet,
daß sie ein Dreieck bilden. — Derartige Dreiecke,
Vierecke usw., freilich in weit abstrakterer Form,
sollten jetzt in der Malerei eine Rolle spielen. Schließlich sah man — mochte das Bild
Landschaft, Porträt, Gruppe oder wie nur immer heißen — nur geometrische Figuren,
als hätte ein Kind, das mit mathematischen Formeln spielt, ein Bild zusammen-
zufügen versucht. Diese Bewegung, „Kubismus“ genannt, die mit Kunst im bis-
herigen Sinne wenig zu tun hat, aber trotz ihres formalen Systems allerlei Mystik,
Linien- und Farbensymbolik, kurz literarische Elemente in sich birgt, ist von dem
in Paris lebenden Spanier Pablo Picasso inszeniert worden und hat trotz ihrer
Trockenheit zahlreiche Nachahmer gefunden, deren Arbeiten das Publikum hoch-
gradig zu amüsieren pflegen. So wird für Humor wider Willen gesorgt.
In dem Vielerlei moderner Kunstbestrebungen ist vor allem noch eine bemerkens-
wert, die gleichfalls von der Form, richtiger gesagt, vom Kunstgewerbe ausgeht. Wenn

Wilhelm Morgner: Landarbeiterin.

man der deutschen Malerei früherer Zeit gern den Vorwurf macht, daß sie mit Philo-
sophie und Literatur zu stark Zusammenhänge, so wird hier umgekehrt ihre Neu-
belebung vom künstlerischen Handwerk aus versucht. Besonders spielt das Glasfenster
mit seiner Farbenglut und seinen Bleirippen eine deutlich erkennbare Rolle. Als Beispiel
sei hier Wilhelm Morgners „Landarbeiterin“ angeführt, wiederum eine Arbeit im primi-
tiven Stile, zusammengefügt aus einer Anzahl von Ovalen, die durch den Kopf, den
Oberkörper, den Unterkörper, die Partien der Brust und Arme, den Sack, den die Frau
hält usw. gebildet werden. Daß auf allen diesen Wegen konstruktive Elemente für die
Malerei gewonnen werden
können, steht außer Frage.
Bisher aber hat sich das Genie,
oder doch das starke Talent
noch nicht gefunden, welches
das umherliegende gesammelte
Material zum stolzen Bau
türmte. „Erlöse uns zum or-
ganischen Leben!“ so scheinen
uns die zerstreuten Teile sehn-
süchtig zuzurufen.
Freilich ist für manche
Künstler jetzt nicht das Auf-
bauen, sondern das Nieder-
reißen Trumpf. Eine wahr-
haft groteske Erscheinung
stellen hier die Futuristen,
meist italienische Künstler,
dar. Die Revolution ist ihr
Prinzip, keine Harmonie soll
herrschen sondern wilde An-
archie, die Meisterwerke histo-
rischer Zeit sollen vernichtet
werden, um dem Neuen Platz
zu machen usw. Gut also!
Schaltet in eurer Phantasie
doch ruhig die Musen aus,
wenn ihr Neues, Ebenbürtiges
Andersgeartetes an seine Stelle setzen könnt. In Wahrheit sind die Futuristen, zu denen
übrigens auch schon Picasso in gewissem Sinne hinneigt, aber ohnmächtige Bildner und
verkappte Literaten. Wenn sie einen Menschen oder Vorgang malen, möchten sie
nicht nur darstellen, was sie in einem Augenblick sehen, sondern alles, was sie von
ihm wissen. Der bildenden Kunst war bisher die Einheit der Zeit und des Ortes
selbstverständlich, d. h., der Maler malte nur, was von einem bestimmten Standpunkte
in dem gleichen Augenblick zu sehen anging. Ganz anders der Futurist, der
Vorgänge, die sich heute, gestern, vor Monaten und Jahren ereignet haben, zusammen
auf seine Leinewand oder Bildtafel bringt und ebenso in den Menschen, die er malt,
nicht etwa die banale Außenseite bloßlegt, sondern auch ihr Inneres, ihre Pläne,
Gedanken usw. mit geistigen Röntgenaugen durchsticht. Ein futuristisches Porträt
sieht etwa folgendermaßen aus: Auf einer wirr-bunten Fläche
befinden sich farbige Figuren, Worte, Zeitungsausschnitte, Klei-
dungsstreifen, ja sogar Schnurrbartspitzen gemalt, geschrieben
und aufgeklebt. Dabei wirkt das Ganze wie ein Kaleidoskop,
selbstverständlich ohne eine Körperform zu ergeben. Eine gewisse
Primitivität ist auch hier insofern vorhanden, als mittelalterliche
Malerei und mittelalterlicher Buchschmuck gern das Nacheinander
von Szenen und Vorgängen schilderte und den Menschen ihr Stich-
wort als eine Art Zunge zum Munde heraushängen ließ. Fast
noch drolliger erscheinen futuristische Plastiken, die häufig den
Eindruck gehäuften, alten Eisentands erwecken.
Damit war in der Tat der grüßte Gegensatz zum Impressionis-
mus erreicht. Wenn sich dieser bemühte, eine ausdrucksvolle
Stimmung mit der Einheit und Frische zu geben, wie sie das
Auge im Moment gemäß den Gesetzen der Perspektive erfaßt, so
wird hier die Einheit von Form und Zeit völlig zersprengt, und
der Maler zum bequemen Durcheinanderschreiber von Ereignissen,
die sich hier und dort, heute und morgen abspielen. Der Impres-
sionismus bedeutete dadurch einen Fortschritt, daß er den Forderun-
gen der Kunst eine neue, nämlich die der unmittelbaren Wirkung,
hinzufügte und so den Kranz des Wettkampfes höher hängte.
Wenn er dabei gelegentlich den Ansprüchen geistigen Gehaltes
oder statischer Gesetze gegenüber nachlässig war, so mußten die
Nachfolger zweifellos eingreifen. Das Beste mitzunehmen, das
Schlechte durch Besseres zu ersetzen, das ist der Weg der Kultur
zu allen Zeiten gewesen. Es geht aber unmöglich an, daß der
bildende Künstler sich seiner Kunst derartig entzieht, daß er auf
das Bilden verzichtet und im Erzählen seine Zuflucht sucht.
Dann triumphieren zeitweise die Nichtskönner, wie es heute leider
schon vielfach geschieht, und eine Unsicherheit herrscht, die in
wilder Hast heute in den Himmel erhebt, was sie bereits morgen
wieder verwirft und snobistisch belächelt.

Max Pech stein: Das Boot

Mit Genehmigung der Hofkunst-
handlung Fritz Gurlitt, Berlin.
 
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