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Mohrmann, Karl [Hrsg.]; Eichwede, Ferdinand [Hrsg.]
Germanische Frühkunst (Band 1): Tafel 1 - 60 — Leipzig, 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.44018#0009
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Einleitung

; in eigen Seſchick waltet über der Benennung der mittelalterlichen Kunitabichnitte. Die Kunſitblüte, die mit dem
] beginnenden 13. Jahrhundert ihren Konſtruktionsgedanken und ihre der Natur entlehnte Formengebung im Sieges-
zuge durch das christliche Abendland trug, nennt lich bis auf den heutigen Tag nach einem Schmähworte des

ES, italieners Vaſari „gotiſche Kunst“. Der ihr voraufgehende große Kunltablichnitt mit ſleiner gleich markigen und
[W keinfühlenden Geſtaltung von Baukörper und Schmuckkorm mußte lich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unter
den Begriff der „byzantiniſchen Kunît“ mit einreihen, bis man die Kunlt des Weitens unter dem ebenſo unpaſſenden Namen
„romanilche Kunſt“ abtrennte. Moch unlicherer iſht die Benennung und Abgrenzung der ſogenannten altchriſtlicten Kunſt, deren
Anfang einzelne über Konſtantin zurückſchieben möchten, während andere gar die oſtrömiſch-chriſtlicte Kunlt bis zur Zerſtörung
von Byzanz im 15. Jahrhundert noch als letzte Periode der Antike anlehen.

Möchte man lich doch mehr daran gewöhnen, das îattellösrmige Werden und Wachſen und die wechſelſleitigen Beeinfluiſungen
im Kunitleben zu beachten, ohne Ichroffke Scheidewände aufrichten zu wollen, die weder zwiſchen der Antike und dem Miittel-
alter noch zwischen der ſogenannten romaniſchen und gotiſchen Kunit beſtehen,

Will man der Verſtändigung wegen beſltimmte Benennungen haben, dann möge man für den chriſtlichen Oîten den Namen
„byzantiniiche Kunſt“ beibehalten, im Welten aber die Bezeichnung „romaniſche Kunlt“ auf die Leiſltungen der romaniſchen Völker
beichränken und neben ihr der „germaniſchen Kunſt“ ihren berechtigten Platz zuweilen.

Wenn die Berausgeber für das vorliegende Werk den Namen ,germaniſche Frühkunſt“ gewählt haben, dann entipringt
das zum Teile der Huflehnung gegen die Bezeichnung „romaniſche Kunſt“, zum größeren Teil aber dem Umltande, daß die dar-
geitellten Kunſtformen lediglich den germaniſchen oder doch zeitweile germaniſch beeintlußten Kunſtgebieten entnommen lind.

Die Abgrenzung des in der Kunſt niedergelegten Gutes der Germanen bildet eine Tagesfrage der Kunſtkorichung und wird
hoffentlich nicht zu bald als Iolche verſchwinden, ſondern wieder und wieder verfolgt werden, bis wir zur größtmöglichſten Klar-
heit gelangen. Von der Anlicht, daß wir alle Wohltaten nur Rom verdanken, daß die Germanen im barbariſchen Unverſtand
anfangs nur zerstörten und dann die kremd zugetragene Kunſt allmählich ſich gefallen ließen, lind wir jetzt mehr abgegangen.
Wenn vir auch zugeben, daß die liegreichen Germanen zunächit wenig ausübende Künltler geltellt haben und daß bei Ein-
führung des Steinbaues an Stelle des Bolzbaues welſche Maurer und Steinmetzen ebenſo den Norden überſchwemmten vie
heutzutage die italieniſchen Terrazzoleger, ſo müſſen wir doch bedenken, daß Ichon ein machtvoller Bauherr nicht ohne Einfluß auk
das Kunstwerk bleibt. Darüber hinaus mülſen wir aber den Germanen auch eine tatkräftige Mitwirkung zugeſtehen. im Holzbau
und der Kleinkunſt belaßen lie eine hochentwickelte Technik, Karl der Große ſandte beiſpielsweile gewandte Bolzarbeiter nach
dem Süden. Die nordiſchen Holzbauten und die nordiſchen Schmuckgegenſtände aus vorchriſtlicher und krühchriſtlicher Zeit zeigen
vollendet durchgebildete Ranken und Tierformen, die mit römiſcher Ornamentik nichts gemein haben, die weit eher Ichon auk
den fernen Oſten hinweiſen.

Wieviel die Germanen als ihr Stammgut oder als alte Überlieferung von Volk zu Volk vom Olten her bereits belaßen,
wieviel ihnen auf den an vorgeſchichtlichen Funden feltzuitellenden Bandelswegen über Land zugetragen wurde, wieviel ſie auk
dem Seewege empfangen haben, wann und in welcher Weile lie das Fremde und Eigene verarbeitet haben, das lind Fragen
von der höchîten Bedeutung, die in die vorgelchichtliche Forichung hineingreifen und hier nur geſtreift ſein ſollen. Tatſacke ilſt, daß
eine nordiſche Kunſt in einer hohen und ganz eigenartigen Entwicklung vorlag und daß wir die Ornamentik der Schmuckgegen-
ſtände und der Bolzbauteu in die ,„Steinkunſit“ übertreten lehen, im Norden und weit hinab im Süden, ja ſelbit auf dem Boden
der einitigen römiſchen Kultur. Huch da, wo die Werke keine ſo laute Sprache reden wie die Tiergeſtalten norwegiſcher Kirchen
und die Steinkreuze in England und Schottland mit ihren Bandverſchlingungen, können wir den germaniſchen oder in geviſſem
Sinne den germaniſch-keltiſchen Bauch verſpüren. Wir lehen an einem Bauwerke des 11. oder 12. Jahrhunderts oft dicht neben-
einander Kapitäle, von denen das eine die unverkennbare Umbildung des Römiſch-Korinthiſchen zeigt, das andere dagegen kaum eine
Spur römiſcher Formenbehandlung erkennen läßt, wohl aber Hnklänge an öltliche oder nordische Formenbehandlung. Das CEhriſtentum,
das alle unter ſeinem Kreuze vereinigte, läßt Oltrömer und Weſtrömer, Germanen und Kelten kriedlich nebeneinander und miteinander
ſchaffen, es duldet ſelbit an Kirchentüren die Beldengeſtalten nordiſcher Sagen.
 
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