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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 2.1909

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L. Baer. Bernhard, Maler von Augsburg, und die Bücherornamentik 57

Die Ratdoltschen Initialen und Bordüren mit ihren einfachen Pflanzen- und Bandmustern,
die sich weiß ausgespart aus dem schwarzen Grunde hervorheben, blieben 30 Jahre
lang für die Renaissanceornamentik der deutschen Buchkunst vorbildlich, bis sie im
zweiten Jahrzehnt des XVI. Jahrhunderts durch reicher mit figürlichen Motiven belebte
Zierstücke, die man dem venezianischen Hochrenaissancebuchschmucke nachbildete, er-
setzt wurden. Aber auch in den anderen Ländern, in den Niederlanden, in Frank-
reich und Spanien finden wir analoge Entwicklungen. Selbst die berühmten Initialen,
die Geoffroy Tory um das Jahr 1536 für den Pariser Verleger Estienne entwarf, sind
eigentlich nichts weiter als Variationen der von Bernhard erfundenen Motive. In der
Folgezeit ist man immer wieder auf dieselben zurückgekommen, wo man bestrebt war,
ein harmonisches Zusammenstimmen von Druck- und Buchschmuck durchzuführen. Als
William Morris im Jahre 1891 die Kelmscott-Press gründete, um in zielbewußter Weise
eine allen ästhetischen Ansprüchen gerecht werdende Buchkunst zu schaffen, da nahm
er sich vor allem jene Bordüre Bernhards mit dem maiglöckchenartig auf den schwarzen
Grund gestreuten Blumen- und Blattornamenten zum Vorbild, die wir in unserer
dritten Gruppe beschrieben haben. Die moderne Buchausstattung wandelt in Morris'
Bahnen. Noch heute greift jeder Drucker von Zeit zu Zeit zu ähnlichen Bordüren und
Initialen. Er weiß wohl, daß keine andere Ornamentik sich so gut den ruhig abge-
wogenen Linien der Antiqua anschmiegt. Keiner ahnte jedoch wohl, daß diese Formen
zuerst ein deutscher Meister in Italien ersonnen hat.
 
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