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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 2.1909

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La Chastelaine de Vergy in der Kunst des
Mittelalters
Von Karl Borinski
Unsere in Heft 10 des ersten Jahrgangs der Monatshefte vorgetragene Deutung
des „Giorgione" zugeschriebenen Halbfigurenbildes im Buckingham Palace und der
Casa Buonarroti auf die Novelle von der Kastellanin von Vergy erfährt eine innere
Stütze durch die Beliebtheit des gleichen Vorwurfs bereits in der Kunst des Mittel-
alters. Das von uns erwähnte altfranzösische Fabliau, zuerst von Meon 1808, jetzt
(1892) sehr sorgfältig mit einer historischen Schlüsseleinleitung von G. Raynaud in
der Romania (XXI, 145—193) herausgegeben, erfreute sich solcher Beliebtheit, daß acht
Handschriften aus dem XIII. und XIV. Jahrhundert, sieben aus dem XV. und XVI. für
den Text benutzt werden konnten. La chastelaine de Vergy und ihr todestreuer
chevalier steht unmittelbar neben Tristan und Isolde, dem Kastellan von Coucy (bei
uns durch Uhlands Ballade bekannt), der Dame von Fayel in der formelhaften
Anführung berühmter Liebespaare (um nur Hervorstechendes zu erwähnen z. B. bei
Froissard im Paradis d'amour und Prison amoureuse, Poesies publ. par A. Scheler
I, 30, 217). Auch in Italien nennt Boccaccio (Decamerone III, 10) unmittelbar neben
Guglielmo Guardastagno, dem italienischen Castellan von Coucy, „la dama del Vergib",
von der Dioneo und Fiammetta sangen. Sogar in den letzten Jahrhunderten kann
Raynaud den Stoff noch lebendig nachweisen. Die Anspielungen auf ihn sind sogar
auf dem heutigen französischen Vaudeville-Theater noch nicht erloschen.
Ein in der Gesellschaft und zumal der hohen Gesellschaft eines reichen und
kunstblühenden Landes wie Burgund so beliebter Erzählungsstoff, der noch dazu
vermutlich (vgl. Raynaud a. a. O. III, p. 151 —55) auf einen dortigen Hofskandal
zurückgeht, kann nicht ohne sofortige Spuren in der bildenden Kunst geblieben sein.
Indem wir die Blicke der bez. Spezialisten namentlich auf Teppichen, Schüsseln (Arrazzi,
Fajencen) u. ä., die ja nicht selten ikonographische Rätsel aufgeben, dafür interessieren
möchten, exemplifizieren wir hier zur Probe auf eine Reihe von Elfenbeindarstellungen,
die eine soeben in reicher Ausstattung vorliegende englische Veröffentlichung 9 dar-
bietet. Wir bezeichnen sie nach ihrer Reihenfolge mit A Bcd E, wobei die großen
Buchstaben die größeren, aus mehreren Feldern bestehenden Darstellungen treffen, die
kleinen die nur aus einem Felde bestehenden. Es handelt sich nach der Einleitung
des Herrn Dr. L. Brandin (p. 14 f.) um ein Elfenbeinkästchen des XIV. Jahrhunderts,
gegenwärtig in Case F im Mediaeval Room des British Museum. Nur wenig soll sich
von ihm unterscheiden ein Elfenbeinkästchen aus gleicher Zeit im Louvre, das M. Emile

9 The chatelaine of Vergy: a romance of the XIIIth Century: translated by Alice Kemp-
Welch: the french text from the edition Raynaud: introduction by L. Brandin Ph.D. — Chatto and
Windus: publishers. London 1907. Herr Dr. Max Maas in München, dem wir den Hinweis ver»
danken, hat uns die Abbildungen bereitwilligst zur Verfügung gestellt.
 
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