E. Firmenich-Richartz. Ist die Kölner Wicken-Madonna eine Fälschung? 421
zur Gefühlsseligkeit und gesteigerten Inbrunst entgegenkommen. Die Darstellungen
hatten den Zweck starke Empfindungen bei den Gläubigen zu wecken. Neben der
rührenden Aufforderung zur Compassio durch Veronika erwartet man in Köln vor
allem die künstlerische Erfassung des Marienideals und der mystischen Beziehungen
der jungfräulichen Mutter zum Jesusknaben. Diese Verkörperung stand im Mittelpunkt
sehnender Wünsche und einer gleichgerichteten Phantasietätigkeit. Es war die vor-
nehmste Aufgabe, in der alle Bestrebungen zusammenflossen.
Eine vielstimmige Resonanz zeugt für den Eindruck einer eminenten künstlerischen
Tat; selbst in veränderten Stilformen steigen noch Anklänge an die vertraute Kom-
position in der Erinnerung späterer Maler auf.
Ähnlich wie die Nürnberger Madonna stehen auch die Bilder des Kölner
Marienaltärchens auf einer Kunststufe, bei der „die Seele ganz und der Körper kaum
erst ins Leben tritt". Die hohen Intentionen übersteigen das
gesicherte Darstellungsvermögen. Selbst die Halbfigur im
Mittelstück berührt noch als etwas Ungewohntes. Sie erhebt
sich auf der Basis der übereinandergelegten Arme in fast
zylindrischer Form und erfüllt so sehr die Bildfläche, daß
deren oberer Rand den Nimbus zum Teil abschneidet. Über
die organische Verbindung der Glieder, ihre Verhältnisse und
Funktionen blieb der Urheber noch häufig im unklaren. Als
Gnadenbild sollte die Maria mit dem Beschauer unmittelbar
in Beziehung treten. Auf ihn ist der Blick der unter schweren
Lidern nur halb geöffneten Augen gerichtet. Das leise Neigen
des Hauptes sollte die strenge Frontalität mildern. Den Ver-
kürzungen, die durch die Verschiebung bedingt werden, ist
der Maler noch nicht recht gewachsen. So bleibt das Antlitz
flach ausgebreitet, ohne die volle Vorstellung körperhafter
Abb. 1. Maria mit dem Kinde
Ausschnitt eines Flügelbildes
d. Altares zu Niederwildungen
Rundung. Die Gesichtshälften entsprechen sich nicht mehr; die Nase und der
gespitzte Mund stehen nicht ganz an ihrer Stelle. Solche Mängel in der Auffassung
der Formen, die sich als Reste eines reinlinearen Flächenstiles erweisen, bleiben un-
verständlich bei einer reifen Neuschöpfung aus dem Zeitalter der Romantik.
Das Hauptbestreben des Künstlers richtete sich sodann darauf, den Körper des
Christkindes mit dem der Mutter in engen Konnex zu setzen, ihn in den Gesamtumriß
einzuordnen und doch auch die Selbständigkeit und Bedeutung des Gottessohnes
wirksam hervorzuheben1). Dabei mußten alle Verkürzungen und Überschneidungen
vermieden werden. Die Art, wie der Meister diesen Zweck erreichte, indem er den
Knabenleib mit vorgestreckten Armen in der Seitenansicht darbietet, entspricht durchaus
y Auf die neuen Darstellungsformen und die Wahl einzelner Motive wirkte vielleicht
anregend das Vorbild berühmter plastischer Werke. Beziehungen zu Frankreich-Burgund sind
evident. Es sei hier nur bemerkt, daß schon bei der silbernen Madonnenstatue der Jeanne
d'Evreux von 1329 aus St. Denis (jetzt Galerie d'Apollon du Louvre) Maria das nackte Kind
mit ihrem Mantel unten umhüllt auf dem Arm trägt, und dieses sich vorbeugend mit aufwärts
gestreckter Hand an das Kinn der Mutter greift. — Photo. Giraudon.
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zur Gefühlsseligkeit und gesteigerten Inbrunst entgegenkommen. Die Darstellungen
hatten den Zweck starke Empfindungen bei den Gläubigen zu wecken. Neben der
rührenden Aufforderung zur Compassio durch Veronika erwartet man in Köln vor
allem die künstlerische Erfassung des Marienideals und der mystischen Beziehungen
der jungfräulichen Mutter zum Jesusknaben. Diese Verkörperung stand im Mittelpunkt
sehnender Wünsche und einer gleichgerichteten Phantasietätigkeit. Es war die vor-
nehmste Aufgabe, in der alle Bestrebungen zusammenflossen.
Eine vielstimmige Resonanz zeugt für den Eindruck einer eminenten künstlerischen
Tat; selbst in veränderten Stilformen steigen noch Anklänge an die vertraute Kom-
position in der Erinnerung späterer Maler auf.
Ähnlich wie die Nürnberger Madonna stehen auch die Bilder des Kölner
Marienaltärchens auf einer Kunststufe, bei der „die Seele ganz und der Körper kaum
erst ins Leben tritt". Die hohen Intentionen übersteigen das
gesicherte Darstellungsvermögen. Selbst die Halbfigur im
Mittelstück berührt noch als etwas Ungewohntes. Sie erhebt
sich auf der Basis der übereinandergelegten Arme in fast
zylindrischer Form und erfüllt so sehr die Bildfläche, daß
deren oberer Rand den Nimbus zum Teil abschneidet. Über
die organische Verbindung der Glieder, ihre Verhältnisse und
Funktionen blieb der Urheber noch häufig im unklaren. Als
Gnadenbild sollte die Maria mit dem Beschauer unmittelbar
in Beziehung treten. Auf ihn ist der Blick der unter schweren
Lidern nur halb geöffneten Augen gerichtet. Das leise Neigen
des Hauptes sollte die strenge Frontalität mildern. Den Ver-
kürzungen, die durch die Verschiebung bedingt werden, ist
der Maler noch nicht recht gewachsen. So bleibt das Antlitz
flach ausgebreitet, ohne die volle Vorstellung körperhafter
Abb. 1. Maria mit dem Kinde
Ausschnitt eines Flügelbildes
d. Altares zu Niederwildungen
Rundung. Die Gesichtshälften entsprechen sich nicht mehr; die Nase und der
gespitzte Mund stehen nicht ganz an ihrer Stelle. Solche Mängel in der Auffassung
der Formen, die sich als Reste eines reinlinearen Flächenstiles erweisen, bleiben un-
verständlich bei einer reifen Neuschöpfung aus dem Zeitalter der Romantik.
Das Hauptbestreben des Künstlers richtete sich sodann darauf, den Körper des
Christkindes mit dem der Mutter in engen Konnex zu setzen, ihn in den Gesamtumriß
einzuordnen und doch auch die Selbständigkeit und Bedeutung des Gottessohnes
wirksam hervorzuheben1). Dabei mußten alle Verkürzungen und Überschneidungen
vermieden werden. Die Art, wie der Meister diesen Zweck erreichte, indem er den
Knabenleib mit vorgestreckten Armen in der Seitenansicht darbietet, entspricht durchaus
y Auf die neuen Darstellungsformen und die Wahl einzelner Motive wirkte vielleicht
anregend das Vorbild berühmter plastischer Werke. Beziehungen zu Frankreich-Burgund sind
evident. Es sei hier nur bemerkt, daß schon bei der silbernen Madonnenstatue der Jeanne
d'Evreux von 1329 aus St. Denis (jetzt Galerie d'Apollon du Louvre) Maria das nackte Kind
mit ihrem Mantel unten umhüllt auf dem Arm trägt, und dieses sich vorbeugend mit aufwärts
gestreckter Hand an das Kinn der Mutter greift. — Photo. Giraudon.
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