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Monatshefte für Kunstwissenschaft
abspielt, in die finstere Wolfschlucht verlegt. Durch einen Riß im Gewölk bescheint
der Mond gigantische Felsen und einen Fluß, der träge zwischen ihnen dahinschleicht.
Ein Regenschauer geht hernieder. Max kniet vor einem Strauch, vorn am Ufer des Flusses,
die Büchse an der Wange, hinter ihm steht Samiel, der Unhold, halb Mensch, halb Fleder-
maus, und streckt die Kralle nach seinem Haupte aus. Ein Pulverwölkchen wirbelt auf, der
Schuß fiel: scheinbar getroffen bricht Agathe zwischen den Bäumen am jenseitigen Ufer
zusammen. Über dem Wald flattert die „weiße Taube". Kaspar bleibt unsichtbar, der
Eremit, ein feister Zwerg, steht am Felsen unterhalb seiner Klause und glotzt schmunzelnd
zu Samiel herüber, dem er das teuflische Handwerk verdorben hat. —
Der Tag dämmert, die Szene verwandelt sich. — Durch das Tor einer Ruine
schweift der Blick über bewaldete Höhen (Abb., S.457). Am dunkelblauen Himmel flimmert
der Morgenstern, von hellen Streifen des Frührots heben sich scharf die Umrisse eines
zinnenbekrönten mittelalterlichen Schlosses ab. Auf dem Weg, der zur Ruine hinauf-
führt, eine seltsame Staffage: ein Ritter in Renaissance-Tracht, ringend mit einer
schwarz gekleideten Edeldame. Zwischen Vögeln und Ungeheuern auf einem Felsblock
hockend, schaut aus der Höhle eine Eule dem Kampfe zu. Durch den Torweg ringelt
sich eine Schlange1). Wie auf einen Schrei hin wendet sie ihren Kopf zur Gruppe
zurück. Was bedeutet die merkwürdige Darstellung? Nach dem Vorangegangenen fällt
die Antwort nicht schwer. Sie stellt eine Verbindung innerlich verwandter
Motive aus den drei damals bekanntesten romantischen Opern dar: Webers
Freischütz, Mozarts Zauberflöte und Don Juan. Die Eule ist die „große Eule"
der Wolfsschucht, der Vogel mit dem „gesträubtem Gefieder" und den „feurig rädern-
den Augen", das Reptil die Verfolgerin Taminos, die beiden Kämpfenden sind Anna
und Don Juan; aus dem Hause des Komturs ist eine Ruine, aus der Freitreppe des
Palastes ein Felsenpfad geworden — Annas Schreie klingen mit den Hilferufen des unsicht-
baren Tamino zu einem Duett zusammen -). Eine fürchterliche, Grauen erregende Vision.
Ist sie tot, die zarte Braut!
Uhui! Uhui!
Eh' noch wieder sinkt die Nacht,
Ist das Opfer dargebracht!
Uhui! Uhui! Uhui!"
') Sie blieb unausgeführt.
2) In der Staffage, zumal der Tierstaffage, klingt die schaurige Musik aus der Wolfs-
schluchtszene des Freischütz nach, die die Worte begleitet:
„Milch des Mondes fiel aufs Kraut!
Uhui! Uhui!
Spinnweb' ist mit Blut betaut!
Uhui! Uhui!
Eh' noch wieder Abend graut —
Uhui! Uhui!
Überschrieben ist die Einleitung zu dem Finale von Karl Maria v. Weber: „Unsichtbare Geister-
stimmen". Der Originalstext von Kind lautet etwas anders und zwar ohne die Überschrift (ich
zitiere hier nach C. F. Wittmann, Einführung zur II. Aufl. des Textes, Ph. Reklam jun., S. 20):
„Ein Rabe. Milch des Mondes fiel aufs Kraut!
Waldvögel (schreien). Uhui!
Zweiter Rabe. Spinnweb' ist mit Blut betaut!
Waldvögel (wie oben). Uhui!
Dritter Rabe. Eh' noch wieder Abend graut —
Waldvögel (wie oben). Uhui!
Eule. Ist sie tot die zarte Braut!
Waldvögel (wie oben). Uhui!
Alle. Eh' noch wieder sinkt die Nacht,
Ist das Opfer dargebracht!
Waldvögel. Uhui! Uhui! Uhui!"
Der Chorus
Monatshefte für Kunstwissenschaft
abspielt, in die finstere Wolfschlucht verlegt. Durch einen Riß im Gewölk bescheint
der Mond gigantische Felsen und einen Fluß, der träge zwischen ihnen dahinschleicht.
Ein Regenschauer geht hernieder. Max kniet vor einem Strauch, vorn am Ufer des Flusses,
die Büchse an der Wange, hinter ihm steht Samiel, der Unhold, halb Mensch, halb Fleder-
maus, und streckt die Kralle nach seinem Haupte aus. Ein Pulverwölkchen wirbelt auf, der
Schuß fiel: scheinbar getroffen bricht Agathe zwischen den Bäumen am jenseitigen Ufer
zusammen. Über dem Wald flattert die „weiße Taube". Kaspar bleibt unsichtbar, der
Eremit, ein feister Zwerg, steht am Felsen unterhalb seiner Klause und glotzt schmunzelnd
zu Samiel herüber, dem er das teuflische Handwerk verdorben hat. —
Der Tag dämmert, die Szene verwandelt sich. — Durch das Tor einer Ruine
schweift der Blick über bewaldete Höhen (Abb., S.457). Am dunkelblauen Himmel flimmert
der Morgenstern, von hellen Streifen des Frührots heben sich scharf die Umrisse eines
zinnenbekrönten mittelalterlichen Schlosses ab. Auf dem Weg, der zur Ruine hinauf-
führt, eine seltsame Staffage: ein Ritter in Renaissance-Tracht, ringend mit einer
schwarz gekleideten Edeldame. Zwischen Vögeln und Ungeheuern auf einem Felsblock
hockend, schaut aus der Höhle eine Eule dem Kampfe zu. Durch den Torweg ringelt
sich eine Schlange1). Wie auf einen Schrei hin wendet sie ihren Kopf zur Gruppe
zurück. Was bedeutet die merkwürdige Darstellung? Nach dem Vorangegangenen fällt
die Antwort nicht schwer. Sie stellt eine Verbindung innerlich verwandter
Motive aus den drei damals bekanntesten romantischen Opern dar: Webers
Freischütz, Mozarts Zauberflöte und Don Juan. Die Eule ist die „große Eule"
der Wolfsschucht, der Vogel mit dem „gesträubtem Gefieder" und den „feurig rädern-
den Augen", das Reptil die Verfolgerin Taminos, die beiden Kämpfenden sind Anna
und Don Juan; aus dem Hause des Komturs ist eine Ruine, aus der Freitreppe des
Palastes ein Felsenpfad geworden — Annas Schreie klingen mit den Hilferufen des unsicht-
baren Tamino zu einem Duett zusammen -). Eine fürchterliche, Grauen erregende Vision.
Ist sie tot, die zarte Braut!
Uhui! Uhui!
Eh' noch wieder sinkt die Nacht,
Ist das Opfer dargebracht!
Uhui! Uhui! Uhui!"
') Sie blieb unausgeführt.
2) In der Staffage, zumal der Tierstaffage, klingt die schaurige Musik aus der Wolfs-
schluchtszene des Freischütz nach, die die Worte begleitet:
„Milch des Mondes fiel aufs Kraut!
Uhui! Uhui!
Spinnweb' ist mit Blut betaut!
Uhui! Uhui!
Eh' noch wieder Abend graut —
Uhui! Uhui!
Überschrieben ist die Einleitung zu dem Finale von Karl Maria v. Weber: „Unsichtbare Geister-
stimmen". Der Originalstext von Kind lautet etwas anders und zwar ohne die Überschrift (ich
zitiere hier nach C. F. Wittmann, Einführung zur II. Aufl. des Textes, Ph. Reklam jun., S. 20):
„Ein Rabe. Milch des Mondes fiel aufs Kraut!
Waldvögel (schreien). Uhui!
Zweiter Rabe. Spinnweb' ist mit Blut betaut!
Waldvögel (wie oben). Uhui!
Dritter Rabe. Eh' noch wieder Abend graut —
Waldvögel (wie oben). Uhui!
Eule. Ist sie tot die zarte Braut!
Waldvögel (wie oben). Uhui!
Alle. Eh' noch wieder sinkt die Nacht,
Ist das Opfer dargebracht!
Waldvögel. Uhui! Uhui! Uhui!"
Der Chorus