MISZELLEN .
EIN UNBEKANNTES GEMÄLDE DES
HENDRICK GOLTZIUS.
Mit einer Abbildung auf einer Tafel.
Die Gemälde des als Stecher so bewunderten
Hendrick Goltzius sind selten und wenig beliebt,
wenn sie auch für die in Haarlem zu Beginn des
XVII. Jahrhunderts herrschende Kunstrichtung recht
charakteristisch bleiben. Nach van Mander begann
Goltzius erst seit dem Jahre 1600 zu malen, also
zu einer Zeit, da seine italienischen Reisen schon
weiter zurücklagen und der Künstler als Stecher
„der sechs Meisterstücke" längst berühmt war.
Die wenigen Gemälde, die er während der letzten
16 Jahre seiner Tätigkeit malte, befinden sich heute
hauptsächlich in den Museen zu Amsterdam,
Utrecht, Haarlem, Haag und Rotterdam. Der Ver-
bleib einiger Gemälde, die bei van Mander be-
schrieben werden, ist unbekannt. Das hier ab-
gebildete Werk, das den Haarlemer Meister von
seiner besten Seite zeigt, wird an entlegener Stelle,
in der Marienkirche zu Ülzen (Prov. Hannover)
als Werk des Correggio aufbewahrt. Ein dornen-
gekrönter Christus mit den Passionsgeräten, am
Fuße der Martersäule sitzend. Schon der erste
Blick zeigt, daß wir das Werk eines Niederländers
vor uns haben. Und wenn man genauer hinsieht,
findet man an der Plinthe der Säule auch die
Signatur: das bekannte Monogramm H. G. des
Hendrick Goltzius, wie es auf den meisten seiner
Gemälde erscheint, und die Jahreszahl 1616. Das
Werk ist also die späteste Arbeit des Meisters,
aus seinem letzten Lebensjahre, demselben Jahre,
als Frans Hals sein erstes Schützenstück malte.
Goltzius erscheint in dieser Einzelfigur weniger
manieriert als wenn er mythologische Szenen
malt. Die Komposition ist außerordentlich virtuos.
Mancher Michelangelonachahmer bleibt dahinter
zurück. In einem über Eck gestellten Quadrat ein
zusammengekauerter Akt derart, daß das Quadrat
vollkommen gefüllt wird und der vorgeschobene
rechte, stark verkürzte Fuß in die unterste Ecke
zu liegen kommt. Dazu eine prachtvolle Zeichnung,
eine feine keineswegs übertriebene Modellierung
und ein warm bräunlicher Fleischton, der sich von
dem sonst üblichen unangenehmen Rot fernhält.
Kein Niederländer hat je so viel an der sixtinischen
Decke gelernt wie Hendrick Goltzius in dieser
Christusfigur. Eine ältere Behandlung des gleichen
Themas erwähnt van Mander: „Goltzius heeft oock
noch gheschildert op een coperen plaet eenen
sittenden Christus meest naeckt, met twee knielende
Engele, met brandede Toortsen,en eenighe reetschap
der Passie, dat oock seer uytnemende was, en is
by den Graef van der Lip, oft den Keyser." Ein
drittes Gemälde mit dem dornengekrönten Christus,
1607 gemalt, besitzt das Museum Kunstliefde in
Utrecht. Das Ülzener Bild, das die Kunstrichtung
der Haarlemer Akademie am besten repräsentiert,
soll sich ehemals im Besitz der Mecklenburger
Herzöge befunden haben. Hans Jantzen.
DIE DEUTUNG VON GRECOS „IR-
DISCHE LIEBE".
Mit einer Abbildung auf einer Tafel.
Das hier abgebildete Gemälde Grecos ist bisher
ohne Grund unter dem Namen „irdische Liebe"
(„amor profano") bekannt gewesen. M. B. Cossio
hat zuerst an die Möglichkeit gedacht, es könne
sich um die Illustrierung irgend einer Auferstehungs-
szene aus der Apokalypse handeln1). Allein er ist
über die Andeutung nicht hinausgekommen. Es
ist nun kein Zweifel, daß Greco die „Eröffnung
des V. Siegels" hat darstellen wollen, ein Thema,
das Dürer zusammen mit der „Eröffnung des
VI. Siegels", dem „Sternenfall", in seinem Holz-
schnitt gegeben hat. Aber weil das Motiv des
V. Siegels nur mehr nebenbei erscheint, ist es
nicht recht beachtet worden. In dem obersten
Teil des Blattes liegen die entscheidenden Züge
zum Greifen bereit, die Dürer in der Offenbarung
des Johannes Kap. VI, 9—12 gefunden hat. Man
braucht nicht darauf zu schwören, daß Greco Dürers
Blatt sah und benutzte; aber mehr als wahrschein-
lich ist doch diese Annahme. Das wäre dann der
zweite Fall, daß der große Spanier bei dem großen
Deutschen eine Anleihe machte (vgl. Trinität-Prado).
Mit Zuhilfenahme des Holzschnittes und der Apo-
kalypse wird der Sinn der sog. „irdischen Liebe"
vollkommen klargestellt.
Die geistvolle, wahnsinnige Kniefigur mit den
hochstrebenden Armen, die die ganze linke Bild-
seite füllt, ist der Apokalyptiker Johannes in seiner
Vision. Im Gegensatz zu Dürer fehlt das Motiv
des Altares, aber die Vordergrundfiguren reden
eine leicht verständliche Sprache. Die beiden ein-
ander gegenüber Knienden mit hochgenommenen
Händen sind „die Seelen derer, die erwürget waren
um des Wortes Gottes willen" (V. 9), die „schrieen
mit großer Stimme" (V. 10), und die rechte Eck-
figur mit dem stark verkürzten Gesicht erzählt im
(1) M. B. Cossio: „El Greco.". Madrid 1908, pag. 355, Taf. 66.
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EIN UNBEKANNTES GEMÄLDE DES
HENDRICK GOLTZIUS.
Mit einer Abbildung auf einer Tafel.
Die Gemälde des als Stecher so bewunderten
Hendrick Goltzius sind selten und wenig beliebt,
wenn sie auch für die in Haarlem zu Beginn des
XVII. Jahrhunderts herrschende Kunstrichtung recht
charakteristisch bleiben. Nach van Mander begann
Goltzius erst seit dem Jahre 1600 zu malen, also
zu einer Zeit, da seine italienischen Reisen schon
weiter zurücklagen und der Künstler als Stecher
„der sechs Meisterstücke" längst berühmt war.
Die wenigen Gemälde, die er während der letzten
16 Jahre seiner Tätigkeit malte, befinden sich heute
hauptsächlich in den Museen zu Amsterdam,
Utrecht, Haarlem, Haag und Rotterdam. Der Ver-
bleib einiger Gemälde, die bei van Mander be-
schrieben werden, ist unbekannt. Das hier ab-
gebildete Werk, das den Haarlemer Meister von
seiner besten Seite zeigt, wird an entlegener Stelle,
in der Marienkirche zu Ülzen (Prov. Hannover)
als Werk des Correggio aufbewahrt. Ein dornen-
gekrönter Christus mit den Passionsgeräten, am
Fuße der Martersäule sitzend. Schon der erste
Blick zeigt, daß wir das Werk eines Niederländers
vor uns haben. Und wenn man genauer hinsieht,
findet man an der Plinthe der Säule auch die
Signatur: das bekannte Monogramm H. G. des
Hendrick Goltzius, wie es auf den meisten seiner
Gemälde erscheint, und die Jahreszahl 1616. Das
Werk ist also die späteste Arbeit des Meisters,
aus seinem letzten Lebensjahre, demselben Jahre,
als Frans Hals sein erstes Schützenstück malte.
Goltzius erscheint in dieser Einzelfigur weniger
manieriert als wenn er mythologische Szenen
malt. Die Komposition ist außerordentlich virtuos.
Mancher Michelangelonachahmer bleibt dahinter
zurück. In einem über Eck gestellten Quadrat ein
zusammengekauerter Akt derart, daß das Quadrat
vollkommen gefüllt wird und der vorgeschobene
rechte, stark verkürzte Fuß in die unterste Ecke
zu liegen kommt. Dazu eine prachtvolle Zeichnung,
eine feine keineswegs übertriebene Modellierung
und ein warm bräunlicher Fleischton, der sich von
dem sonst üblichen unangenehmen Rot fernhält.
Kein Niederländer hat je so viel an der sixtinischen
Decke gelernt wie Hendrick Goltzius in dieser
Christusfigur. Eine ältere Behandlung des gleichen
Themas erwähnt van Mander: „Goltzius heeft oock
noch gheschildert op een coperen plaet eenen
sittenden Christus meest naeckt, met twee knielende
Engele, met brandede Toortsen,en eenighe reetschap
der Passie, dat oock seer uytnemende was, en is
by den Graef van der Lip, oft den Keyser." Ein
drittes Gemälde mit dem dornengekrönten Christus,
1607 gemalt, besitzt das Museum Kunstliefde in
Utrecht. Das Ülzener Bild, das die Kunstrichtung
der Haarlemer Akademie am besten repräsentiert,
soll sich ehemals im Besitz der Mecklenburger
Herzöge befunden haben. Hans Jantzen.
DIE DEUTUNG VON GRECOS „IR-
DISCHE LIEBE".
Mit einer Abbildung auf einer Tafel.
Das hier abgebildete Gemälde Grecos ist bisher
ohne Grund unter dem Namen „irdische Liebe"
(„amor profano") bekannt gewesen. M. B. Cossio
hat zuerst an die Möglichkeit gedacht, es könne
sich um die Illustrierung irgend einer Auferstehungs-
szene aus der Apokalypse handeln1). Allein er ist
über die Andeutung nicht hinausgekommen. Es
ist nun kein Zweifel, daß Greco die „Eröffnung
des V. Siegels" hat darstellen wollen, ein Thema,
das Dürer zusammen mit der „Eröffnung des
VI. Siegels", dem „Sternenfall", in seinem Holz-
schnitt gegeben hat. Aber weil das Motiv des
V. Siegels nur mehr nebenbei erscheint, ist es
nicht recht beachtet worden. In dem obersten
Teil des Blattes liegen die entscheidenden Züge
zum Greifen bereit, die Dürer in der Offenbarung
des Johannes Kap. VI, 9—12 gefunden hat. Man
braucht nicht darauf zu schwören, daß Greco Dürers
Blatt sah und benutzte; aber mehr als wahrschein-
lich ist doch diese Annahme. Das wäre dann der
zweite Fall, daß der große Spanier bei dem großen
Deutschen eine Anleihe machte (vgl. Trinität-Prado).
Mit Zuhilfenahme des Holzschnittes und der Apo-
kalypse wird der Sinn der sog. „irdischen Liebe"
vollkommen klargestellt.
Die geistvolle, wahnsinnige Kniefigur mit den
hochstrebenden Armen, die die ganze linke Bild-
seite füllt, ist der Apokalyptiker Johannes in seiner
Vision. Im Gegensatz zu Dürer fehlt das Motiv
des Altares, aber die Vordergrundfiguren reden
eine leicht verständliche Sprache. Die beiden ein-
ander gegenüber Knienden mit hochgenommenen
Händen sind „die Seelen derer, die erwürget waren
um des Wortes Gottes willen" (V. 9), die „schrieen
mit großer Stimme" (V. 10), und die rechte Eck-
figur mit dem stark verkürzten Gesicht erzählt im
(1) M. B. Cossio: „El Greco.". Madrid 1908, pag. 355, Taf. 66.
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