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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0054
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lüsternen Nordfranzosen, welche die gotische Kunst schufen"1). Weiterhin er-
füllt es ihn mit sichtlichem Behagen versichern zu können, daß jener Unter-
nehmungsgeist, der den eigentlichen Charakterzug der gotischen Kunst darstellt,
rein germanischer Geist sei.
Kraus hält es in seinem Handbuch für gut, den Argumenten seiner Vorgänger
noch einige hinzuzufügen. „Im Mittelalter", sagt er, „wurde die gotische Kunst
in Deutschland: französische Kunst, opus francigenum, genannt. Aber das Frank-
reich von damals ist das Land der Franken, welche allerdings die romanische
Sprache angenommen hatten, aber Germanen geblieben waren. Und hat der große
Historiker Ranke nicht anerkannt, daß bis zum 13. Jahrhundert die Völker des
Okzidents nur ein einziges bildeten, hat er nicht gezeigt, daß das nationale Gefühl
in Frankreich erst um 1215 auftaucht?, d. h. fast ein Jahrhundert nach der Ge-
burt der gotischen Kunst. Eine Tatsache beweist, bis zu welchem Grade die
Franzosen des 12. und 13. Jahrhunderts Germanen geblieben waren. In den
Heldengedichten haben die Barone (welche germanisches Blut bewahrt haben)
und die Edelfrauen einen Schönheitstyp, welcher dem französischen Typ gar nicht,
wohl aber dem ausgeprägt germanischen entspricht. Schlanker Wuchs, breite
Schultern, blondes Haar, blaue Augen, weiße Haut. Daraus geht hervor, daß der
oberste Stand, derjenige, welcher Literatur und Kunst auiblühen ließ, rein ger-
manischer Abkunft war" ,.
Dies sind die ganz ernsthaften Einfältigkeiten, die ein in Deutschland geachteter
Gelehrter im Jahre 1897 schrieb. Wenn man an die wohlbegründeten Schlußfolge-
rungen von Fustel de Coulanges denkt, muß man lächeln. „In Gallien gab es seit
dem 7. Jahrhundert", sagt er, „wenig Menschen, von denen man mit Bestimmtheit
sagen konnte, in ihren Adern floß gallisches oder germanisches Blut." Mit Ver-
gnügen erinnert man sich auch an die Seiten Sugers, die er über die Deutschen zu
Beginn des 12. Jahrhunderts geschrieben hat, als noch die Nationalitäten, dem
großen Historiker Ranke zufolge, verwirrt waren. Suger redet darin mit hoch-
mütiger Verachtung von unseren Erbfeinden und nennt sie: „Diese Barbaren!"
Aber Deutschland weigerte sich, den Augenschein anzuerkennen. Welcher
Jammer, welche Demütigung, eingestehen zu müssen, daß man ohne allen Anteil
an der Schöpfung der gotischen Kunst ist, dieser überirdischen Kunst, in der
man die Offenbarung des zarten, tiefen, mystischen deutschen Geistes zu sehen
geglaubt hatte. Hören wir, in welcher Tonart Kraus von der Unmöglichkeit
spricht, daß ein Deutscher auf seine Überzeugung verzichte: „Wenn wir Deutschen
glaubten, die gotische Kunst sei deutsches Eigentum, so soll das eine Täuschung sein?:
Eine Illusion, ein Trug soll es gewesen sein, wenn wir den Kölner Dom betrach-
teten — diesen Dom, an dem alle zusammen wirkten vom Kaiser bis zum Juden, —
als das Symbol unserer Ehre, unserer Größe! Es soll wahr sein, daß wir unsere
gute deutsche Architektur für einen Pariser Luxusartikel aufgegeben hätten,
den ersten der vielen mit denen Frankreich den Okzident überschwemmt hat.
Wahr soll es sein, daß unser jugendlicher Enthusiasmus für die Gotik nichts sei,
als ein unbewußtes Überbleibsel unserer beflissenen Bewunderung für die franzö-
sische Mode?! Glücklicherweise ist die scheinbar wahre Lehre, welche behauptet,
daß die gotische Kunst eine sonderlich französische Kunst sei, eine falsche Lehre!"8)

(1) Lübke, Geschichte der Architektur, 2. Auflage, Seite 379.

(2) Kraus, Geschichte der christlichen Kunst, 1897, Band I, Seite 160—161. Ich habe den Originaltext
etwas zusammengefaßt.

(3) Kraus,a. a. O., Seite 159. (Auch dieses Zitat ist nicht ganz wörtlich, siehe Kraus II, 1 S. 159. Der Übersetzer,)

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