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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0060

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Aber in diesen Gegenden war die Beeinflussung durch Poitou viel stärker als
die durch Anjou. Westfalen und Umgegend haben die Kirchen mit drei gleich-
hohen Schiffen durch Poitou kennen gelernt. Es ist den deutschen Archäologen
schwer geworden, diese Wahrheit anzuerkennen. Für sie gab es nichts Volks-
tümlicheres, nichts von Grund auf Deutscheres als diese Kirchen mit den drei
gleichen Schiffen, die sie Hallenkirchen nennen. Sie sind tatsächlich so zahlreich
in Deutschland, daß man sie für dort einheimisch halten könnte. Aber auch in
Frankreich sind sie zahlreich, im alten Aquitanien, wo sie anderthalb Jahrhundert
früher auftauchten. Es bleibt kein Zweifel über den wirklichen Ursprung der Hallen-
kirchen, wenn man die Kathedrale in Paderborn betrachtet hat. Diese Kirche ist
im Jahre 1235 fast von Grund auf neu gebaut worden. Drei gleichhohe Kirchen-
schiffe, Raumverschwendung, geräumige Fenster, alles erinnert an die Kathedrale
von Poitiers. Die Analyse gibt diesem ersten Eindruck die Kraft der Gewißheit.
Das Pfeilerbündel in dem Schiff von Paderborn, von sehr eigenartigem Muster, ist
die genaue Nachahmung des Pfeilerbündels in dem Kirchenschiff von Poitiers.
Dieser Beweis kommt einer Kritik gleich. Die Abteikirche von Herford, in der
Paderborner Gegend gelegen, ist nicht weniger typisch. Ihre drei gleichhohen
Schiffe, sowie ihre Pfeiler sind nach der Art von Poitou, aber die domikalen Ge-
wölbe, die Rippen, die gepaarten Fenster kommen aus Anjou.
Es ist einfach unmöglich zu bezweifeln, daß die deutschen Kirchen mit den
drei gleichen Schiffen nicht aus Poitou stammen sollten. Schon seit dem Ende der
romanischen Epoche hatte die erste Einführung stattgefunden, aber erst die zweite,
die gotische Einführung des 13. Jahrhunderts, erwies sich als fruchtbar. Die Kathe-
drale von Poitiers bildete für den Westen Deutschlands den Typus der Voll-
kommenheit. Man sieht, daß sie im kleinen bei einer Menge Kirchen nachgeahmt
wurde: in Methler, in Bern, in Warburg usw. Im 14. und 15. Jahrhundert gelangte
die Hallenkirche bis in die Mitte Deutschlands. Sie wird zur bevorzugten deutschen
Kirche. Aber die Einfachheit der Gotik von Poitou wird dort trocken und ärmlich:
nirgends findet sich die Schönheit des Modells.
V.
Durch Burgund und Anjou waren Deutschland zwei Abarten der Gotik zu-
geführt: nunmehr sollte es die reine Gotik, die Gotik der Ile-de-France, kennen
lernen.
Diesmal scheint es, als ob den Deutschen ihre Modelle nicht zugetragen worden
seien, sondern als ob sie sie sich geholt hätten. Es konnte nicht ausbleiben, daß
das Ansehen Frankreichs, von dem alle neuen Ideen ausgingen, die wunderbare
Regsamkeit in der Kunst, die Kirchen in allen Städten des Königreichs entstehen
ließ, die starke Eigenart alles dessen, was unsere Künstler schufen, die fremden
Werkmeister und Handwerker herbeilockten. Wie es scheint, bestand damals unter
den Berufsgenossen eine Kameradschaft, die das Reisen erleichterte. Die Deutschen
sahen sich an, was in Frankreich geschaffen wurde, sie lernten ein gotisches Ge-
wölbe errichten, sie unterrichteten sich in der Bearbeitung der Steine, gewöhnten
sich an neue Profile. Sie kehrten mit Mustern und Zeichnungen nach Hause zurück,
sie hatten große Handfertigkeit erworben, sie waren fähig, die Einzelheiten einer
französischen Kirche nachzubilden; aber nur wenige dieser reisenden Künstler hatten
sich bis zum Ganzen durchgearbeitet und konnten die gotische Architektur als ein
vollständiges System erfassen.

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