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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0061

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Die Kathedrale von Laon scheint das erste Gebäude des Königreichs gewesen
zu sein, welches die deutsche Bewunderung erregt hat. Man kann das Erstaunen
jener Fremden, als sie auf der Höhe ankamen, auf der sich die wundervolle
Kirche erhebt, ohne weiteres verstehen. Die Kathedrale von Laon, deren sieben
Türme von einem Berge aus zum Himmel streben, hat eine großartige Poesie,
zu der sich Weite, Wind und Wolken vereinigen. Nirgends tritt uns „la vieille
France" mit ähnlicher Majestät entgegen. Im Innern strahlt alles Kraft und Jugend
aus: die mächtigen Säulen, die schönen Tribünen, die hohen, sechsteiligen Gewölbe.
Es ist eben die schöne Gotik vom Ende des 12.Jahrhunderts, mit der sich nichts
vergleichen läßt, als vielleicht die griechische Kunst.
Einige deutsche Steinhauer und wohl auch einige Werkmeister müssen über
den Bauplatz von Laon gekommen sein. Es ist wahrscheinlich, weil wir sie
bald darauf nachahmen sehen, was sie gesehen hatten. Aber bewundern wir
nebenbei nochmals die germanische Redlichkeit! Wissen Sie, warum nach Dehio
und. Bezold die Kathedrale von Laon so originell ist? Weil viele Deutsche daran
gearbeitet haben. Sie haben daraus ein Gebäude gemacht, „das ganz verwandt mit
dem deutschen Gefühl ist"1). „Denn," so sagen sie weiter, „die französischen Kathe-
dralen enthalten nicht nur viele deutsche Handarbeit, sondern auch viel deutsche
Phantasie"2). Ist das nicht eine prachtvolle Form der Beweisführung? Demnach
haben die Schüler die Lehrer unterrichtet! Um 1200 herum, zur Zeit als die
Kathedrale von Laon ihrer Vollendung entgegenging, verstanden die Deutschen
weder ein Spitzbogengewölbe zu bauen, noch ein französisches Profil zu zeichnen
oder ein Blattwerk-Kapitel auszuhauen, sie hatten nicht einmal eine Ahnung von
der Anwendung des Strebebogens — trotzdem haben sie aber dem Architekten
von Laon wertvolle Ratschläge gegeben! Wer die Kathedrale von Laon studiert
und gesehen hat, wie durch und durch französisch alles daran ist, kommt nicht
auf die Idee, sich darüber zu empören, er kann nur lächeln. — Deutschland muß
schon recht tief die Demütigung, nichts erfunden zu haben, verspüren, daß es soweit
kommt. Da es sich nicht mehr rühmen kann, die gotische Kunst bei sich geschaffen
zu haben, rühmt es sich jetzt, sie bei uns ins Leben gerufen zu haben. Es bemächtigt
sich unserer Kathedralen! Immerhin ist das unschuldiger, als sie zu zerstören!
Vorzugsweise überraschte die durch Laon kommenden Deutschen nicht etwa
der Gesamteindruck der Kathedrale, für den sie damals wohl noch wenig Ver-
ständnis gehabt hätten, sondern manche Einzelheiten. Die beiden Türme der
Fassade erregten die Bewunderung. Sie mußten unter den Kollegen und Werk-
meistern berühmt sein, denn Villard von Honnecourt, der sie in seinem Album
zeichnete, schrieb unter die Skizze: „Ich bin in vielen Landen gewesen, aber
in keinem Ort sieht man einen ähnlichen Turm wie den von Laon." Es
gibt tatsächlich nichts Originelleres als diese Türme von Laon in ihren oberen
Partien. Von Quadraten ausgehend, werden sie achteckig. Der Übergang vom
Quadrat zum Achteck ist durch vier Ecktürmchen verschleiert, welche aus zwei
übereinander liegenden Baldachinen gebildet sind. Licht und Luft fluten durch
diese kleinen Säulchen, und das Motiv ist eins der graziösesten, das die Archi-
tekten des Mittelalters erdacht haben; aber es mischt sich mit dieser Grazie
etwas Fremdes, Wildes. Zwischen den Säulen der Baldachine erheben sich große

(1) Dehio und Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abendlandes, Band II, Seite 261. (Auch dieses
Zitat ist nicht wörtlich. Der Übersetzer.)

(2) a. a. O. Seite 256.

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