wird, daß die Skulpturen des Portals vielleicht die reinst-französischen sind, die sich
in Deutschland finden, so wird wie bei uns, die Überzeugung sich Bahn brechen,
daß schwerlich anzunehmen ist, ein solches Bauwerk sei von einem deutschen
Architekten und deutschen Arbeitern aufgeführt. Die Liebfrauenkirche in Trier, welche
dem kreisförmigen Graltempel ähnelt, den die Dichter des Mittelalters ersannen,
ist eine rein französische Kirche.
Wenn man den Rhein herunterfährt, so begegnet man unweit der Grenze von
Holland, in Xanten, einer neuen Nachahmung von Saint-Yved de Braine. Xanten ist
eine Stadt römischen Ursprungs, und sein Seminar ist dem römischen Soldaten,
Sankt Viktor gewidmet. Die jetzige Kirche stammt aus dem Ende des 13.Jahrhunderts:
sie gibt getreulich die Apsis und die vier fächerförmigen Kapellen von Saint-Yved
wieder. Die Kirche wäre ganz französisch geworden, wenn sie hätte vollendet
werden können, aber der Bau wurde unterbrochen, erst zu Ende des Mittelalters
wurde daran weiter gearbeitet; so ist denn das Schiff in ganz anderem Stil erbaut
als der Chor.
Die St. Katharinenkirche in Oppenheim, ebenfalls im Rheintal zwischen Worms
und Mainz gelegen, wurde ungefähr gleichzeitig mit der Xantener Kirche begonnen.
Wie diese, zeigt sie den Chor von Saint-Yved de Braine, wenn auch weniger
getreu. Statt zweier über Eck angebrachter Kapellen zu jeder Seite der Apsis,
ist nur eine vorhanden. Diese Vereinfachung nimmt dem Chor etwas von seinem
Reiz.
VI.
Bis dahin hatten die Deutschen ihre Modelle in einer Gegend von geringem
Umkreis, in dem Viereck, das Laon, Braine, Reims und Soissons bilden, geholt.
Dort befanden sich, wie wir heute nur zu wohl wissen, die Deutschland am nächsten
gelegenen französischen Kathedralen. Aber bald waren ihnen auch die Meister-
werke etwas weiter fort, Amiens, Paris und Chartres bekannt und wurden ihrer-
seits nachgeahmt.
Der Kölner Dom, Deutschlands Nationaldenkmal, ist nichts mehr und nichts weniger
als die Nachbildung der Kathedrale von Amiens.
Bis zum Jahre 1815 konnte man nichts Befremdenderes sehen, als die die Stadt
beherrschende Silhouette des Kölner Doms. Es war ein riesiger Chor, ein un-
geheurer Reliquienschrein, ein Schrein aus Stein und Glas, welcher die Reliquien
der drei Weisen umschloß. Weit davon ab, nach Westen zu, erhoben sich zwei
unvollendete Türme. Das Schiff dagegen ragte kaum aus der Erde heraus, von
weitem konnte man es nicht sehen. Diese ungeheure, seit dreihundert Jahren
von den Arbeitern ihrem Schicksal überlassene Kirche sah trostloser aus als eine
Ruine. Man sah noch auf der Spitze eines der Türme den seit dreihundert Jahren
vergeblich Steine erwartenden Krahn und die Winde. Man wurde dort zum Zeugen
des Todeskampfes des deutschen Mittelalters. Wie es schien, war dies Deutsch-
land mit dem Fluch des ewigen Unvermögens belegt. Das einzige große Werk,
das es unternommen, das einzige, durch das es mit Frankreichs Kathedralen hätte
wetteifern können, hatte es nicht zu Ende zu führen vermocht. Die ersten Roman-
tiker Deutschlands litten tief unter der Melancholie dieses verlassenen Bauplatzes:
sie sahen darin das 'Abbild ihres zerstückelten Vaterlandes, das vergeblich nach
Einigung strebte. Gleichzeitig bildeten sie sich ein, daß der Kölner Dom die ur-
eigenste Schöpfung des deutschen Volkes sei. In ihm sahen sie den tiefen Geist
ihrer Vorväter. Der Kölner Dom wurde ihnen zum Symbol Deutschlands.
Aus dem Nebelmeer dieser Poesie brach bald der klare Gedanke hervor: Der
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in Deutschland finden, so wird wie bei uns, die Überzeugung sich Bahn brechen,
daß schwerlich anzunehmen ist, ein solches Bauwerk sei von einem deutschen
Architekten und deutschen Arbeitern aufgeführt. Die Liebfrauenkirche in Trier, welche
dem kreisförmigen Graltempel ähnelt, den die Dichter des Mittelalters ersannen,
ist eine rein französische Kirche.
Wenn man den Rhein herunterfährt, so begegnet man unweit der Grenze von
Holland, in Xanten, einer neuen Nachahmung von Saint-Yved de Braine. Xanten ist
eine Stadt römischen Ursprungs, und sein Seminar ist dem römischen Soldaten,
Sankt Viktor gewidmet. Die jetzige Kirche stammt aus dem Ende des 13.Jahrhunderts:
sie gibt getreulich die Apsis und die vier fächerförmigen Kapellen von Saint-Yved
wieder. Die Kirche wäre ganz französisch geworden, wenn sie hätte vollendet
werden können, aber der Bau wurde unterbrochen, erst zu Ende des Mittelalters
wurde daran weiter gearbeitet; so ist denn das Schiff in ganz anderem Stil erbaut
als der Chor.
Die St. Katharinenkirche in Oppenheim, ebenfalls im Rheintal zwischen Worms
und Mainz gelegen, wurde ungefähr gleichzeitig mit der Xantener Kirche begonnen.
Wie diese, zeigt sie den Chor von Saint-Yved de Braine, wenn auch weniger
getreu. Statt zweier über Eck angebrachter Kapellen zu jeder Seite der Apsis,
ist nur eine vorhanden. Diese Vereinfachung nimmt dem Chor etwas von seinem
Reiz.
VI.
Bis dahin hatten die Deutschen ihre Modelle in einer Gegend von geringem
Umkreis, in dem Viereck, das Laon, Braine, Reims und Soissons bilden, geholt.
Dort befanden sich, wie wir heute nur zu wohl wissen, die Deutschland am nächsten
gelegenen französischen Kathedralen. Aber bald waren ihnen auch die Meister-
werke etwas weiter fort, Amiens, Paris und Chartres bekannt und wurden ihrer-
seits nachgeahmt.
Der Kölner Dom, Deutschlands Nationaldenkmal, ist nichts mehr und nichts weniger
als die Nachbildung der Kathedrale von Amiens.
Bis zum Jahre 1815 konnte man nichts Befremdenderes sehen, als die die Stadt
beherrschende Silhouette des Kölner Doms. Es war ein riesiger Chor, ein un-
geheurer Reliquienschrein, ein Schrein aus Stein und Glas, welcher die Reliquien
der drei Weisen umschloß. Weit davon ab, nach Westen zu, erhoben sich zwei
unvollendete Türme. Das Schiff dagegen ragte kaum aus der Erde heraus, von
weitem konnte man es nicht sehen. Diese ungeheure, seit dreihundert Jahren
von den Arbeitern ihrem Schicksal überlassene Kirche sah trostloser aus als eine
Ruine. Man sah noch auf der Spitze eines der Türme den seit dreihundert Jahren
vergeblich Steine erwartenden Krahn und die Winde. Man wurde dort zum Zeugen
des Todeskampfes des deutschen Mittelalters. Wie es schien, war dies Deutsch-
land mit dem Fluch des ewigen Unvermögens belegt. Das einzige große Werk,
das es unternommen, das einzige, durch das es mit Frankreichs Kathedralen hätte
wetteifern können, hatte es nicht zu Ende zu führen vermocht. Die ersten Roman-
tiker Deutschlands litten tief unter der Melancholie dieses verlassenen Bauplatzes:
sie sahen darin das 'Abbild ihres zerstückelten Vaterlandes, das vergeblich nach
Einigung strebte. Gleichzeitig bildeten sie sich ein, daß der Kölner Dom die ur-
eigenste Schöpfung des deutschen Volkes sei. In ihm sahen sie den tiefen Geist
ihrer Vorväter. Der Kölner Dom wurde ihnen zum Symbol Deutschlands.
Aus dem Nebelmeer dieser Poesie brach bald der klare Gedanke hervor: Der
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