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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0066

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drale von Amiens der Chor der zuletzt entstandene Teil ist, wissen wir. Die Ar-
beiten wurden 1240 unterbrochen und erst 1258 wieder aufgenommen; nun ist das
Anfangsjahr für den Kölner Dom 1248. Man wolle bemerken, daß seit 1248 der Bau-
meister von Köln Teile der Kathedrale von Amiens gekannt haben soll, die noch
nicht im Bau waren; ich kann daraus nur einen Schluß ziehen, daß er wenigstens
den zeichnerischen Entwurf gekannt haben muß. Aber wie soll er ihn gekannt
haben, wenn er nicht einen hervorragenden Anteil am Bau gehabt hat?" Diese
Beobachtungen zusammenfassend, kann man zu einer überraschenden Schlußfolge-
rung kommen. Und die wäre? Man errät sie: daß nämlich der Entwurf zu dem
Chor der Amienser Kathedrale von dem Architekten des Kölner Domes stammt.
Nun war aber höchst vermutlich der Architekt des Kölner Domes ein Deutscher,
nämlich Meister Gerhard; ein Deutscher hat also den Chor der Kathedrale von
Amiens entworfen. „Wenn es sich beweisen ließe," fügt Dehio mit Biederkeit
hinzu, „daß Meister Gerhard den Familiennamen „von Rill" trägt, so läge keine
weitere Schwierigkeit vor, sich dieser Hypothese anzuschließen"1). Das war ein
Meisterschuß: den Franzosen, die sich einbilden, den Deutschen das Modell zum
Kölner Chor gebracht zu haben, antwortet man, daß es die Deutschen sind, welche
den wunderbarsten der französischen gotischen Chöre, den Chor zu Amiens, er-
funden haben. Und was dieser Hypothese einen besonderen Reiz verleiht, ist,
daß sie vom Urheber anläßlich des Kongresses für Kunstgeschichte, der in Paris
1900 tagte, vorgebracht wurde.
Was damals auf die Paradoxa geantwortet wurde, weiß ich nicht, aber man könnte
heute Folgendes antworten:
Eine Inschrift hat uns die Namen der drei Baumeister erhalten, welche die
Arbeiten der Kathedrale von Amiens von ihrem Beginn im Jahre 1220 ab, bis zur
fast vollständigen Vollendung im Jahre 1288 leiteten. Sie hießen Robert de Lu-
zarche, Thomas de Cormont, Renaud de Cormont. Man hatte den drei Bauherren
die Ehre angetan, ihre Bilder in Kupfer in das Pflaster der Kirche einzulassen. Auf
diese Weise bekräftigte man, daß sie die wahren und einzigen Urheber der Kathe-
drale seien. Hier gehört Meister Gerhard nicht hin.
Durch nichts ist bewiesen, daß der Plan zum Kölner Dom von Meister Gerhard
stammt. Sein Name findet sich zum ersten Male in den Abrechnungen von 1257,
neun Jahre nach dem Beginn der Arbeiten. Wir kennen seine Nationalität nicht.
Die deutsche Gelehrenwelt hat kürzlich zugegeben, daß eine Verwechslung statt-
gefunden hat und daß Meister Gerhard nicht „von Rill" hieße.
Endlich — und dies Argument könnte alle anderen erübrigen — ist es nicht wahr,
daß der Chor von Amiens später entstanden sei als der Kölner. Es ist ein be-
wußter Irrtum, zu behaupten, daß im Jahre 1248, im Augenblick, als der Kölner
Dom begonnen wurde, weder der Wandelgang noch die lichten Kapellen der Kathe-
drale von Amiens existierten. Der Mann, der mit der größten Zuverlässigkeit die
Architektur der Kathedrale von Amiens studiert hat, Georges Durand, teilt uns
mit, daß der Bischof Arnould de la Pierre im Jahre 1247 in dem Umgang be-
stattet worden sei. Aus dem aufmerksamen Studium der Dokumente folgert er,
daß dieser Teil der Kirche 1238 bereits im Bau befindlich war. Die schönen, strahlen-
förmigen Kapellen von Amiens waren fraglos 1248 fertig, denn der Architekt der
Sainte-Chapelle in Paris ahmte seit 1245 die allgemeine Anordnung und die Einzel-
heiten nach.
(1) Revue archeologique, 1900, 2. Teil, Seite 213.

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