Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

DOI Artikel:
Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0067

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Man ersieht daraus, welche Glaubwürdigkeit dem von Dehio erdachten Roman
beizumessen ist. Wenn es in Frankreich ein eingeborenes Motiv gibt, so ist es der
Chorumgang von Amiens mit seinen ausstrahlenden Kapellen. Man sieht ihn in
Chartres entstehen, sich in Reims vervollkommnen und in Amiens die Vollkommen-
heit erreichen. Es ist derselbe Vorwurf, der durch geistvolle Verbesserungen immer
klarer und schöner wurde. Was hätte dabei ein unsern Überlieferungen vollkommen
fremder Deutscher tun sollen?
Diese Häufung von Irrtümern nimmt wunder. Aber alles erklärt sich aus dem
Interesse an der zu verteidigenden Sache. Den Kölner Dom rächen, ihm die erste
Stelle wieder einräumen, Frankreich und die Welt überzeugen, daß er das Original
und Amiens die Kopie sei — welch großartiges Unterfangen! Man sieht, die deutsche
Wissenschaft schreckt vor nichts zurück, wenn es sich um Deutschlands Ruhm
handelt. Es überrascht, bei dem Manne, der vielleicht am rückhaltlosesten den
Vorrang der französischen Kunst anerkannt hat, ein solches Versagen des Kritik-
gefühls feststellen zu müssen: die nationale Eigenliebe ist stärker.
Der Kölner Baumeister kam aus Amiens, der von Wimpfen im Tal aus Paris.
Die alte Stadt Wimpfen, die noch die Ruinen eines Palastes der Hohenstaufen
birgt, liegt im oberen Neckartal. In der Unterstadt erhebt sich eine gotische Kirche
aus dem 13. Jahrhundert. Ein Dokument gibt uns über den Architekten der Kirche
zu Wimpfen sehr interessante Einzelheiten. Das Dokument besagt, daß der Priester
Richard einen Baumeister, einen sehr geschickten Architekten, der gerade aus
Paris angekommen sei, berufen und ihn beauftragt habe, ihm eine Kirche im fran-
zösischen Stil aus behauenen Steinen zu bauen1). Kostbarer Wortlaut, denn er
sagt uns, daß der Architekt von Wimpfen sich in Frankreich ausgebildet habe;
noch kostbarer aber, weil er der gotischen Architektur ihren wahren Namen,
„französischer Stil", zubilligt. Die Kirche von Wimpfen wurde 1269 begonnen. Es
ist eine merkwürdige Tatsache, daß sie in gar nichts, wenigstens nicht im Innern,
an die Bauten der Pariser Gegend erinnert. Es ist ein Gebäude in nüchterner,
ernster, altertümlicher Gotik. Man ist überrascht von der Engigkeit der Fenster,
und der Nacktheit des Schiffes ohne Triforium. Nur in Burgund kann man im
13. Jahrhundert Kirchen dieses Charakters finden. Das Studium dieses Wimpfener
Schiffes macht zunächst stutzig: man weiß nicht, wie das Bauwerk mit dem Text
in Einklangs bringen. Aber wenn wir aus dem Querschiff heraustreten, haben wir
den Beweis für die Wahrheit des Ursprunges vor uns. Alle Einzelheiten der Fassade
des Querschiffes sind von Notre-Dame in Paris entliehen. Der Künstler hat als
Schema das rote Portal von Notre-Dame mit dem großen Fenster, welches sich
darüber öffnet, gewählt. Aber er hat sich auch durch das Portal des benachbarten
Querschiffes inspirieren lassen. Mit großer Genauigkeit, nur die Proportionen ändernd,
hat er die drei von einem Giebel und zwei Zinnen beschatteten Nischen wieder-
holt, die zu jeder Seite das Portal des Querschiffes flankieren. Man findet alles,
bis zum Kleeblatt, das das Dreieck des Wimperges schmückt. Es ist also wirklich
wahr, daß der Architekt von Wimpfen aus Paris kam. Wie hat er, der so viel
schöne Modelle vor Augen hatte, der in seinen Mappen so vortreffliche Zeichnungen
barg, ein so herbes Kirchenschiff entwerfen können? Nur Sparsamkeitsgründe ver-
mögen diese Eigentümlichkeit zu erklären.
Auch in einer andern Kathedrale, die Deutschland als die seinige betrachtet,

(1) Praepositus Richardus ... accito peritissimo in architectoria arte latomo, qui tune noviter de villa
Parisiensi e partibus venerat Franciae, opere francigeno, basilicam ex sectis lapidibus construi jubet.

57
 
Annotationen