daß sie nicht wiederzuerkennen ist. In seinen gotischen Kirchen ahnt man bereits
den Geist der Renaissance. Man erkennt darin den dem Italiener angeborenen Sinn
für die Raumverschwendung, seine ausgesprochene Vorliebe für die horizontale
Linie. Ihr Proportionsgesetz ist das genaue Gegenteil des unsern: ihre Kirchen-
schiffe sind breit und von mittlerer Höhe, unsere sind schmal und hoch. Als Söhne
des Altertums haben die Italiener, trotz gegenteiligen Anscheines, nur eine Archi-
tektur gehabt. Auch Spanien gibt der gotischen Architektur den Aufdruck seines
stolzen Geistes. Es baut eine Kirche in der Kirche; der von Mauern abgeschlossene
Chor erstreckt sich bis in die Mitte des Schiffes. Über das Gewölbe stellt es eine
durchbrochene Laterne, Cimborio genannt. Alten Kapellen fügt es neue, immer
größere, reichere hinzu. Vor allem aber schmückt es die Kirche mit einem Reich-
tum aus, welcher alle Vorstellungen übertrifft. Die Fassaden mit ihren großen
Wappenschildern, die Altarblätter der Hochaltäre, welche bis zum Gewölbe auf-
steigen und vom Golde Amerikas erglänzen, die mit Statuen beladenen Verschläge
des Chors, die Chorstühle, die von der Einnahme Granadas erzählen, sind das Ab-
bild des großen Spaniens der katholischen Könige.
Und was tut Deutschland derweil? Nicht allein erschafft es nichts Neues, es
läßt unter seinen Händen auch noch alles verarmen. Nicht wir, sondern der be-
kannteste deutsche Archäologe redet so. Hören wir ihn selbst: „Deutschland hatte
an dem Frühling und Sommer der gotischen Kunst kaum teilgenommen, aber es
erlebte einen langen Herbst. Es hat in der Zeit viel gebaut, und durch die Zahl
seiner Bauwerke steht es an erster Stelle. Bedauerlicherweise erhebt sich die
deutsche Gotik am Ende des Mittelalters nicht ein einziges Mal zu der Höhe, zu
der sich dieselbe Kunst noch in Frankreich, England und Spanien erhebt. Die
deutsche Gotik von damals trägt den unbestreitbaren Stempel der Mittelmäßigkeit
und Verflachung"1). Das liegt daran, daß die deutsche Kunst nicht mehr die großen
Vorbilder von früher hat, sondern vorgibt, sich selbst zu genügen. In Deutschland
ist die Kunst des 15. Jahrhunderts nicht mehr die der Herrscher oder der Bischöfe,
sondern die der Bürgerschaft. Das durch den Handel bereicherte Bürgertum läßt
Gemeindekirchen und Kapellen bauen, die sein Spiegelbild sind. Dehio charakteri-
siert diese Kunst mit einem für seine Landsleute grausamen Wort: „hausbackene
Plattheit" — diese nationale Plattheit fühlen die Deutschen selbst und leiden dar-
unter. Goethe behauptete, sich von dieser Art Kunst befreit zu fühlen, als er
Italien sah.
Die außerordentliche Vereinfachung ist es, die der deutschen Architektur des
15. Jahrhunderts zum Charakterzug wird. Über alle anderen trägt der wenigst kom-
plizierte Typus, der der Hallenkirchen mit drei gleichhohen Schiffen, den Sieg da-
von. Kein Querschiff, kein Umgang; nüchterne Formen, wie vorausbestimmt für
den lutherischen Kultus. Das einzige Besondre an diesen kalten Kirchen ist
das Netz- oder Sterngewölbe. Aber auch dieses Gewölbe hat Deutschland nicht
erfunden, es erhielt es aus England. Zuerst taucht es in der Herrschaft der Deutsch-
ordensritter und in der Marienkirche in Lübeck auf, d. h. in Seegebieten, welche
der Handel mit England verband. Auch da zeigen sich die deutschen Architekten
ihren Lehrern sehr untergeordnet: „Wenn man das deutsche Gewölbe mit dem
englischen vergleicht, so fällt der Vergleich für Deutschland wenig günstig aus.
(1) Dehio und Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abendlandes, Band II, S. 315. (Dieses Zitat ist
nicht nur durch seine Ungenauigkeit, sondern auch dadurch, das Male den Satz unvermittelt abbrach,
in seinem Sinn entstellt. Der Übersetzer.)
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den Geist der Renaissance. Man erkennt darin den dem Italiener angeborenen Sinn
für die Raumverschwendung, seine ausgesprochene Vorliebe für die horizontale
Linie. Ihr Proportionsgesetz ist das genaue Gegenteil des unsern: ihre Kirchen-
schiffe sind breit und von mittlerer Höhe, unsere sind schmal und hoch. Als Söhne
des Altertums haben die Italiener, trotz gegenteiligen Anscheines, nur eine Archi-
tektur gehabt. Auch Spanien gibt der gotischen Architektur den Aufdruck seines
stolzen Geistes. Es baut eine Kirche in der Kirche; der von Mauern abgeschlossene
Chor erstreckt sich bis in die Mitte des Schiffes. Über das Gewölbe stellt es eine
durchbrochene Laterne, Cimborio genannt. Alten Kapellen fügt es neue, immer
größere, reichere hinzu. Vor allem aber schmückt es die Kirche mit einem Reich-
tum aus, welcher alle Vorstellungen übertrifft. Die Fassaden mit ihren großen
Wappenschildern, die Altarblätter der Hochaltäre, welche bis zum Gewölbe auf-
steigen und vom Golde Amerikas erglänzen, die mit Statuen beladenen Verschläge
des Chors, die Chorstühle, die von der Einnahme Granadas erzählen, sind das Ab-
bild des großen Spaniens der katholischen Könige.
Und was tut Deutschland derweil? Nicht allein erschafft es nichts Neues, es
läßt unter seinen Händen auch noch alles verarmen. Nicht wir, sondern der be-
kannteste deutsche Archäologe redet so. Hören wir ihn selbst: „Deutschland hatte
an dem Frühling und Sommer der gotischen Kunst kaum teilgenommen, aber es
erlebte einen langen Herbst. Es hat in der Zeit viel gebaut, und durch die Zahl
seiner Bauwerke steht es an erster Stelle. Bedauerlicherweise erhebt sich die
deutsche Gotik am Ende des Mittelalters nicht ein einziges Mal zu der Höhe, zu
der sich dieselbe Kunst noch in Frankreich, England und Spanien erhebt. Die
deutsche Gotik von damals trägt den unbestreitbaren Stempel der Mittelmäßigkeit
und Verflachung"1). Das liegt daran, daß die deutsche Kunst nicht mehr die großen
Vorbilder von früher hat, sondern vorgibt, sich selbst zu genügen. In Deutschland
ist die Kunst des 15. Jahrhunderts nicht mehr die der Herrscher oder der Bischöfe,
sondern die der Bürgerschaft. Das durch den Handel bereicherte Bürgertum läßt
Gemeindekirchen und Kapellen bauen, die sein Spiegelbild sind. Dehio charakteri-
siert diese Kunst mit einem für seine Landsleute grausamen Wort: „hausbackene
Plattheit" — diese nationale Plattheit fühlen die Deutschen selbst und leiden dar-
unter. Goethe behauptete, sich von dieser Art Kunst befreit zu fühlen, als er
Italien sah.
Die außerordentliche Vereinfachung ist es, die der deutschen Architektur des
15. Jahrhunderts zum Charakterzug wird. Über alle anderen trägt der wenigst kom-
plizierte Typus, der der Hallenkirchen mit drei gleichhohen Schiffen, den Sieg da-
von. Kein Querschiff, kein Umgang; nüchterne Formen, wie vorausbestimmt für
den lutherischen Kultus. Das einzige Besondre an diesen kalten Kirchen ist
das Netz- oder Sterngewölbe. Aber auch dieses Gewölbe hat Deutschland nicht
erfunden, es erhielt es aus England. Zuerst taucht es in der Herrschaft der Deutsch-
ordensritter und in der Marienkirche in Lübeck auf, d. h. in Seegebieten, welche
der Handel mit England verband. Auch da zeigen sich die deutschen Architekten
ihren Lehrern sehr untergeordnet: „Wenn man das deutsche Gewölbe mit dem
englischen vergleicht, so fällt der Vergleich für Deutschland wenig günstig aus.
(1) Dehio und Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abendlandes, Band II, S. 315. (Dieses Zitat ist
nicht nur durch seine Ungenauigkeit, sondern auch dadurch, das Male den Satz unvermittelt abbrach,
in seinem Sinn entstellt. Der Übersetzer.)
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