DR. JOSEF STRZYGOWSKI, ordentl. Professor
FÜR KUNSTGESCHICHTE AN DER K. K. UNIVERSITÄT WIEN1)
Im Augenblick des Druckabschlusses lerne ich die von Emile Male in der Revue,
de Paris im Juli 1916 begonnene Reihe von „Studien über die deutsche Kunst'
kennen — leider nur aus einer deutschen Übersetzung, die ich Dr. Grautoff verdanke.
Der erste Aufsatz, „Die Kunst der germanischen Völker", deckt sich ziemlich genau
mit einem Teile dieses Buches. Es dürfte vielleicht am Platze sein, daran zu er-
innern, daß ich darüber im März v. J. in Stockholm, Göteborg und Lund Vorträge
hielt, die kurz darauf auch in „Konsthistoriska sällskapets publikation" 1916 S. 1 f.
und „Die bildende Kunst des Ostens" im Auszuge erschienen sind. Da Male jede
deutsche Quelle anzugeben vermeidet, darf man sich nicht wundern, diese wie
ältere meiner Arbeiten zur Sache gleich denen anderer deutscher Fachgenossen ver-
schwiegen zu sehen. Auch Male leitet die Granateinlage in Gold aus dem Osten
her und verwendet das persische und skythische Material als Beleg. Die vorkaro-
lingische Tierinitiale führt er auf den Orient zurück und sieht als Vermittler dafür
die Klöster an. Abgesehen von der Rolle, die ich auch in dieser Richtung den
Goten zuteile, bleibt besonders in der Gruppe der dreistreifigen Bandgeflechte ein
scharfer Gegensatz unserer Anschauungen bestehen.
Der zusammenfassende Schlußsatz lautet bei Male: „Die Skulptur ist demnach
von der Lombardei ausgegangen, aber wie wir gesehen haben, ist sie ausschließ-
lich orientalischen Ursprungs. Die deutschen Gelehrten sind daher im Irrtum, wenn
sie behaupten, daß die lombardischen Stämme beim Eintritt nach Italien die Grund-
elemente der dekorativen Kunst, die sich im 8. und 9.Jahrhundert verbreitete, ein-
geführt hätten. Die Lombardei hat von den Germanen nichts erhalten; alles im
Gegenteil von den Christen des Orients, den Griechen Asiens, den Syrern, den
Ägyptern, welche die großen Schöpfer waren, als die klassische Kunst verlöschte.
Demzufolge verdankt Italien den Barbaren, die es an sich gerissen haben, ebenso-
wenig wie Frankreich. Diese Barbaren besaßen keinerlei künstlerischen Geist, sie
verstanden nur zu zerstören. In der Kunst des Mittelalters läßt sich nicht ein ein-
ziges deutsches Element feststellen. Vielmehr hat Deutschland diese Kunst des
Mittelalters, die es sich rühmte, geschaffen zu haben, fix und fertig von Italien und
Frankreich übernommen".
Male steht also — von seiner Kriegsstimmung abgesehen — heute 1916 noch
auf dem Standpunkte von Riegl 1893—1903. Er weiß nichts davon, daß der vorder-
asiatische Südstrom und der germanische Nordstrom unabhängig voneinander sind,
aber den gleichen Ursprung im fernen Gebiete Altai-Iran haben. Die deutsche
Kunstforschung, deren humanistische Einseitigkeit Male ganz entgangen ist, wird
eines „germanischen Stolzes" angeklagt, dessen sich die eigentlichen Fachvertreter
der Jetztzeit leider nur zu wenig schuldig gemacht haben. Vielleicht dämmert an der
Hand der in diesem Buche behandelten Fragen die Erkenntnis auf, daß wir gut täten,
über der einseitigen Geschichtsforschung den Erdkreis nicht zu vergessen und im
Wege einer vergleichenden Wesensforschung u. a. auch dem Deutschen gerecht zu
werden.
(1) Nachwort zu dem Buche: Altai-Iran und Völkerwanderung. J. C. Hinrichsche Buchhandlung,
Leipzig 1917.
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FÜR KUNSTGESCHICHTE AN DER K. K. UNIVERSITÄT WIEN1)
Im Augenblick des Druckabschlusses lerne ich die von Emile Male in der Revue,
de Paris im Juli 1916 begonnene Reihe von „Studien über die deutsche Kunst'
kennen — leider nur aus einer deutschen Übersetzung, die ich Dr. Grautoff verdanke.
Der erste Aufsatz, „Die Kunst der germanischen Völker", deckt sich ziemlich genau
mit einem Teile dieses Buches. Es dürfte vielleicht am Platze sein, daran zu er-
innern, daß ich darüber im März v. J. in Stockholm, Göteborg und Lund Vorträge
hielt, die kurz darauf auch in „Konsthistoriska sällskapets publikation" 1916 S. 1 f.
und „Die bildende Kunst des Ostens" im Auszuge erschienen sind. Da Male jede
deutsche Quelle anzugeben vermeidet, darf man sich nicht wundern, diese wie
ältere meiner Arbeiten zur Sache gleich denen anderer deutscher Fachgenossen ver-
schwiegen zu sehen. Auch Male leitet die Granateinlage in Gold aus dem Osten
her und verwendet das persische und skythische Material als Beleg. Die vorkaro-
lingische Tierinitiale führt er auf den Orient zurück und sieht als Vermittler dafür
die Klöster an. Abgesehen von der Rolle, die ich auch in dieser Richtung den
Goten zuteile, bleibt besonders in der Gruppe der dreistreifigen Bandgeflechte ein
scharfer Gegensatz unserer Anschauungen bestehen.
Der zusammenfassende Schlußsatz lautet bei Male: „Die Skulptur ist demnach
von der Lombardei ausgegangen, aber wie wir gesehen haben, ist sie ausschließ-
lich orientalischen Ursprungs. Die deutschen Gelehrten sind daher im Irrtum, wenn
sie behaupten, daß die lombardischen Stämme beim Eintritt nach Italien die Grund-
elemente der dekorativen Kunst, die sich im 8. und 9.Jahrhundert verbreitete, ein-
geführt hätten. Die Lombardei hat von den Germanen nichts erhalten; alles im
Gegenteil von den Christen des Orients, den Griechen Asiens, den Syrern, den
Ägyptern, welche die großen Schöpfer waren, als die klassische Kunst verlöschte.
Demzufolge verdankt Italien den Barbaren, die es an sich gerissen haben, ebenso-
wenig wie Frankreich. Diese Barbaren besaßen keinerlei künstlerischen Geist, sie
verstanden nur zu zerstören. In der Kunst des Mittelalters läßt sich nicht ein ein-
ziges deutsches Element feststellen. Vielmehr hat Deutschland diese Kunst des
Mittelalters, die es sich rühmte, geschaffen zu haben, fix und fertig von Italien und
Frankreich übernommen".
Male steht also — von seiner Kriegsstimmung abgesehen — heute 1916 noch
auf dem Standpunkte von Riegl 1893—1903. Er weiß nichts davon, daß der vorder-
asiatische Südstrom und der germanische Nordstrom unabhängig voneinander sind,
aber den gleichen Ursprung im fernen Gebiete Altai-Iran haben. Die deutsche
Kunstforschung, deren humanistische Einseitigkeit Male ganz entgangen ist, wird
eines „germanischen Stolzes" angeklagt, dessen sich die eigentlichen Fachvertreter
der Jetztzeit leider nur zu wenig schuldig gemacht haben. Vielleicht dämmert an der
Hand der in diesem Buche behandelten Fragen die Erkenntnis auf, daß wir gut täten,
über der einseitigen Geschichtsforschung den Erdkreis nicht zu vergessen und im
Wege einer vergleichenden Wesensforschung u. a. auch dem Deutschen gerecht zu
werden.
(1) Nachwort zu dem Buche: Altai-Iran und Völkerwanderung. J. C. Hinrichsche Buchhandlung,
Leipzig 1917.
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