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DIE NEUE GESTALTUNG

DAS GENERALPRINZIP GLEICHGEWICH-
TIGER GESTALTUNG

Obgleich Kunst einerseits der bildliche Ausdruck unseres ästhetischen Ge-
fühls ist, dürfen wir daraus nicht folgern, daß Kunst nur »der ästhetische
Ausdruck unserer subjektiven Gefühle« sei. Die Logik verlangt, daß Kunst der
bildliche Ausdruck unseres ganzen Wesens sei, also auch der gestaltete Aus-
druck des Nicht-Individuellen (das der absolute und ausgleichende Gegensatz
ist) — andererseits soll Kunst der unmittelbare Ausdruck des Universellen in
uns sein, das heißt die exakte Erscheinung außerhalb unseres Wesens.

So verstanden ist das Universelle das, was stets ist und bleibt, das für uns
mehr oder weniger Unbewußte, im Gegensatz zum mehr oder minder Be-
wußten, dem Individuellen, welches sich stets wiederholt und erneut. —

Unser ganzes Wesen ist sowohl das eine wie das andere: das Unbewußte
und das Bewußte, das Unbewegliche und das Bewegliche; entstehend und Form
wechselnd in wechselnder Aktion. Diese Aktion enthält alles Leid und alles
Glück des Lebens, -— das Leid entsteht durch fortgesetzte Scheidung, das
Glück durch immerwährende Erneuerung des Veränderlichen. Als Unbeweg-
liches steht über allem Leid und allem Glück — das Gleichgewicht.

Durch unser Unbewegliches verschmelzen wir uns mit allen Dingen. Das
Veränderliche zerstört unser Gleichgewicht, es trennt und scheidet uns von
allem, das anders ist als wir. — Aus diesem Gleichgewicht, dem Unbewußten
und dem Unbeweglichen, entsteht die Kunst. Sie erhält sichtbaren Ausdruck
durch das Bewußtwerden. Daher ist die Erscheinung der Kunst der gestaltete
Ausdruck des Unbewußten und des Bewußten. Er zeigt den Zusammenhang
des einen mit dem anderen: er verändert sich, aber die »Kunst« bleibt un-
verändert.

Es ist möglich, daß in der Totalität unseres »Sein« das Individuelle oder
das Universelle vorherrscht, oder daß das Gleichgewicht zwischen beiden an-
nähernd ist. Diese letzte Möglichkeit ist es, welche es uns als Individuum er-
 
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