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Müller, Karl Otfried
Archäologische Mittheilungen aus Griechenland (Band 1,1): Athens Antiken-Sammlung — Frankfurt a.M., 1843

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https://doi.org/10.11588/diglit.900#0018
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------- 10-------

(las Ungeheure imponìren, noch mit äusserlich aufgetragenen Bedeutungszeichen sich schmücken,
noch vorbereiten auf ein gedachtes Innere, sondern sie setzt ihren eigenen Zweck, einen Raum abzu-
seh Hessen und zugleich zugänglich zu machen, und ihre eigenen Mittel in steigenden und bindenden
Massen, und den Zusammenhang selbst von Zweck und Mittel auf's Unterscheidbarste und Gediegenste
auseinander. Sie stellt selbst ihren Sinn im reinen und vollendeten Körper dar, so dass sie einem an-
schaulichen Organismus ähnlich und hierin plastisch ist. Weil sie so das Insichberuhen und Gleich-
gewicht einer grossen Gestalt sichtbar macht, kommt auch an ihrer Stirn der förmlich plastische
Schmuck derMetopen, und in ihrer Krone, dem Giebel, die Statuencomposition nicht als ein Fremdes,
sondern als eine Blüthe ihres eigenen Prinzips zum Vorschein. Dieses plastische System, welches
man mit Recht das charakteristische des griechischen Volksgeistes nennt (denn er zeigt es, wie in der
Architektur, so in der alteren Kunst der Dichtung und der jüngeren der Malerei), legt sich umfassend
in der vollständigen Erscheinung eines griechischen Tempels mit seinen eingefnssten und angehangen
Sculpturen dar.

Man kann den griechischen Tempel ein System der Plastik nennen, worin dieselbe zugleich in
ihrer ersten Form und Hülse, dem gebundenen Gleichgewicht, als Bauzusammenhang, und in ihrer
zweiten Form und Knospe, dem halb noch gebundenen, halb organischen Gleichgewicht, als Relief
am Bau, und in ihrer dritten Form und Blüthe, dem rein organischen Gleichgewicht, als Götterbild im
Bau, vollendet und musterhaft sich offenbart. Was der griechische Boden bewahrt hat von plasti-
schen Ueberresten an und neben den architektonischen, indem es uns zur Anschauung dieses ein-
zigen Systems verhilft, kommt an Werth für die Geschichte dem Edelsten gleich, was die Literatur
der Griechen uns von ihrem Dichten und Denken erhalten hat. Die grossartigsten und lautersten Ge-
bilde der griechischen Plastik von allen der Zerstörung entgangenen sind solche von Tempelgebäuden.
Ihre Schönheit und Bedeutung ist so gross, dass selbst der ganze reiche Antikenfund des italischen
Bodens keinen Ersatz für sie gewahren könnte. Erst naeh der Mitte des vorigen und im Anfang dieses
Jahrhunderts hat man durch Stuart und Elgin die Sculpturen vom Parthenon naher kennen gelernt,
erst vor dreissig Jahren in Óen von einer Gesellschaft dänischer und deutscher Reisenden entdeckten
Giebelstatuen des üginetischen, und Friesreliefs des arkadischen Tempels, ebenso authentische Werke
aus derselben grossen Kunstperiode hinzugewonnen; und erst seitdem besitzen wir einen Maassstab
für die Vollkommenheit der griechischen Plastik und ihre geschichtliche Entwicklung. Die ägineti-
schen Gestalten in ihrer gemessenen Rüstigkeit sind von einem festen, und in dieser festen Bestimmt-
heit heitern Geiste volkstümlicher Sitte durchdrungen und gehalten. Die attischen des Parthenon
beseelt in ihrer grossartigen Ruhe und adeligen Energie ein schönes freisinniges Selbstbewusstsein.
In den KampfhÜdern des arkadischen Frieses bewegt sich eine pathetischkühne Thatlust. Inzwischen
haben diese Kenntniss die in Sicilien zu Selinus 1823 von zwei Engländern gemachte Entdeckung von
Tempel-Metopen, und in Griechenland die Ausgrabung von Metopcn-Bruchstücken des Zenstempels
in Olympia, einErgebniss der französischen Expedition, lehrreich vermehrt. Jene selinuntischen Scul-
pturen von drei verschiedenen Tempeln stellen zum Theil einen der ältesten Charaktere griechischer
Plastik, zum Theil in hoher Trefflichkeit eine dem Styl der äginetischen Figuren verwandte Kunst-
ausbildung vor Augen. Die Reste der Olympischen Metopen in ihrer naiven Derbheit und Bewegtheit
 
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