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Müller, Walter A.
Nacktheit und Entblößung in der altorientalischen und älteren griechischen Kunst — Leipzig, 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.14693#0092
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— 82 —

liegenden außer dem beiden gemeinsamen Gürtel allerdings
keine nähere typische Verwandtschaft, höchstens die theräischen
Tonfiguren mit Armstümpfen. Eine von ihnen spreizt die
Beine auseinander, was, wenn beabsichtigt, zu der hier ver-
tretenen Deutung gut passen würde. Die besser gearbeiteten
Elfenbeinstatuetten halten Beine und Arme straff gestreckt.
An den orientalischen Ischtartypus erinnert nichts. Das einzige
Attribut, der mehr oder minder hohe Polos, paßt ebenso zu
einer Göttin wie zu einer sterblichen Beischläferin, in seiner
ursprünglichen Bedeutung als Brautkrone.1)

Aus derselben Auffassung heraus finden auch die nackten
Werber bei den Leichenfeiern ihre Erklärung. Unbekleidet
klagen hier die Frauen der Familie um den Toten, wie wenn
sie sich ihm preisgeben wollten, um seine Seele den Über-
lebenden gnädig zu stimmen, im Grunde nur eine Parallel-
erscheinung zu den nackten Grabfigürchen. Analogien für
die Entblößung zum Zeichen der Trauer fanden wir oben bei
den Ägyptern, Hebräern, Arabern und Phönikiern (S. 23,
41, 44).

Falls in der Dresdener Prothesis die Leiche unter ihren
Decken nackt lag, ergäbe sich noch die Möglichkeit, daß die
Nacktheit der Hingabe sich auch auf die Tote erstrecken
konnte. Bereitete man doch den Unverheirateten z. B. eine
förmliche Hochzeit im Jenseits, gewissermaßen eine Vermäh-
lung mit Hades, wie die Sitte des Brautbades u. a. lehrt.'2)
Daß Frauen nackt beerdigt wurden, kam nach Plutarch (unten
S. 160) später in Ionien wenigstens als Strafe vor.

Dieselbe Deutung wie für die unbekleideten Klageweiber

J) Dragendorff, Rhein. Mus. N. F. LI S. 281; derselbe, Thera II S. 123.
2) vgl. Sophokles, Ant. 816: ^A%sqovxi vviupevooj. Wolters, Jahrb. d.
Inst. XIV 1899 S. 133.
 
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