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Müller, Erwin; Schliepstein, Gerhard [Editor]
Die Wiedergeburt des Porzellans: eine kultur- und kunstpsychologische Einführung in die Porzellanplastik Gerhard Schliepsteins — München: Delphin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.48465#0042
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sich nur so erklären läßt, daß das Auge der Künstler fast plötzlich
einen neuen Sinn für die härtere Stilisierung bekommen hat, wie
sie damals in der byzantinischen Kleinplastik beispielgebend vor
Augen trat. Genau wie damals erarbeitete sich auch Schliepstein
in den letzten Jahren eine härtere, eine stilisierte Formensprache,
die der plastischen Wirkung und Rundung zugute kommt. Noch
ein zweiter Vorgang aus der Plastik der Epoche des kirchlich-
mystischen Idealismus (1270—1370) wiederholt sich im plasti-
schen Wandlungs- und Läuterungsgang Schliepsteins. Man sehe
sich seine Figuren aus den Schöpfungen aus den Jahren seit 1924
an. Der Körper verliert hier seinen realen, irdischen Sinn. Ein
Verzicht auf eine gewisse äußere Schönheit, Weichheit und Ge-
fälligkeit ist eine durchgängige Erscheinung. Wohl sind diese
Körper fein abgestimmt in der Stilisierung, wohl sind die Formen
geradezu dekorativ abgerundet, die Massen meisterhaft ab-
gewogen, die Details zusammengezogen — aber diese Körper sind
nicht mehr nur sinnlicher Leib. Die Animalität des menschlichen
Körpers ist von ihnen abgestreift. Der Körper ist von einem
unfaßbaren mystischen Inhalt erfüllt. Folgerichtig verschmolzen
auch die Gewänder und Gewandandeutungen immer enger mit
dem Körper. Dieser unbewußten Folgerung lag dieselbe seelische
Tatsache zugrunde wie siebenhundert Jahre zuvor bei der gleichen
Erscheinung: der aus seiner Realität und seiner irdischen Be-
stimmung herausgehobene entstofflichte Körper gewann auf
der anderen Seite fortgesetzt an seelischer Empfindsamkeit, an
Geistigkeit, an hoheitsvoller Würde und Beseelung. Der durch
das Gewand verdeckte und im Gewand untergehende Körper
(s. Abb. 11 und 12) wird gerade dadurch wie einst die empor-
strebenden, vertikalen gotischen Figuren in das Pflanzenhafte,

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