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Dix, Otto [Ill.]
Ausstellung Otto Dix: Katalog mit Verzeichnis der gesamten Graphik bis 1925 — Veröffentlichungen des Kunstarchivs, Berlin, Band 2/​3: Berlin: Das Kunstarchiv Verlag, 1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.63099#0008
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liehe Körperbildung und Seelenschwung, weil er viel zu viel von
den Minderwertigkeiten der Menschen und des Lebens kennt. Es
scheint, daß niemand gerechter ist als Otto Dix in seinem Gesamt-
werk. Schon heute kann man urteilen, daß der Durchschnitt dieser
Zeit mit ihren Höhen und Tiefen sich in ihm so spiegelt, wie sie
dem unbefangenen Historiker einst erscheinen wird. Eine greuliche
Bilderschrift dieses unseres Chaos.
Kein Künstler der Gegenwart hat eine so vielfältige und wider-
spruchsvolle Entwicklung hinter sich; keiner eine so maßlose Viel-
fältigkeit seines Schaffens, solchen Reichtum unerhörter Gesichte.
Zwischen 1912 und 1920, einschließlich. vier schwerer, an der
französischen Front zugebrachter Kriegsjahre, wechselt er vom male-
rischen Spätimpressionismus und äußerster Plastizität der Er-
scheinung zu farbig sinnlichster Abstraktion, zu symbolischem
Kubismus und geklebten Orgiasmen von dadaistischer Herkunft,
aus denen er sich in einem unbeschreiblichen Elan zum form-
bestimmten Verismus erhebt. Wer diese letzte und eindringlichste
Wandlung fast von Tag zu Tag miterlebt hat, wer mitansehen
durfte, wie sich aus den gehämmerten und geleimten Tollheiten,
den Seemannsfreuden und Barrikadenkämpfern die Monumentalität
der „Kriegskrüppel“ des Dresdner Stadtmuseums herausschälte und
dann die Bordell- und Lustmordbilder, die ersten Porträts von
grausiger Überwirklichkeit, untermischt mit lyrischen Travestien
und Lebensgrotesken erwuchsen: der weiß nicht nur, warum der
Verismus kommen mußte, der hat auch das Außerordentliche eines
werdenden Genies miterlebt. Es war in dem Meisteratelier der
Dresdner Akademie, an der Otto Dix in dem wohltuend unbe-
fangenen Professor Sterl einen sehr verständigen Förderer fand.
Dort entstanden seine ersten bleibenden Meisterwerke, dort ist er,
in ewigen Lebensnöten zu seiner Bestimmung herangereift. Man
kann ihn keines Meisters Schüler nennen. Zeitgenössische Er-
scheinungen bedingten seine Entwicklung. Aber was Otto Dix im
Innersten ist, verdankt er nur sich selbst, seinem angeborenen bilden-
den Genie, das aus Herkunft und Rasse herauszutüfteln just bei
ihm, dem Proletarierkind, wohl vergebliche Mühe sein wird.
Dix kommt daher wie ein Elementarereignis, ungeheuerlich, uner-
klärlich verheerend gleich einem Vulkanausbruch. Nie weiß man,

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