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Schäfer, Alfons [Hrsg.]
Neue Forschungen zu Grundproblemen der badischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert — Oberrheinische Studien, Band 2: Karlsruhe: Kommissionsverlag G. Braun, 1973

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Zier, Hans Georg: Die Industrialisierung des Karlsruher Raumes: ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Badens
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https://doi.org/10.11588/diglit.52720#0379
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Zier

bis 1870 kann noch heute in der Karlsruher Siidstadt studiert werden. Die dor-
tigen Verhältnisse kannte der aus Pforzheim stammende Verfasser eines 1858
erschienenen Aufsatzes19, in dem die Vorteile der Wohnungsbaugenossenschaf-
ten geschildert werden; er schreibt: „Traurig ist das neuerdings aufgedrungene
System, die besseren Stadtteile fast ausschließlich für die wohlhabenden Klassen
in Anspruch zu nehmen und den niederen Ständen nur die ungesunderen, dem
Verkehr entlegenen Teile zu überlassen. ... In den schlechten Vorstädten . . .
bleiben dann nur noch Wohnungsräume für die hinweggedrängten Volksklassen
und es entstehen dadurch auf bestimmten Punkten Concentrationen solcher un-
glücklicher Volksbestandteile, die sich in ihrer engen Massenanhäufung stets aus
polizeilichen und Gesundheitsrücksichten gefährlich für große Städte erwiesen
haben.“ Nur mit Staunen vermerken zeitgenössische Berichte aus den Revolu-
tionstagen 18 4 8/18 4 9 20 das unerklärliche massenhafte Auftreten von „Blusen-
männern“ in den Straßen der Stadt Karlsruhe. Da sie alle „vom Bahnhof her"
durch die Karl-Friedrich-Straße nach dem Marktplatz kamen, mutmaßten die
Stadtbürger, sie seien mit der Eisenbahn von auswärts gekommen. In Wahrheit
waren es aber die Bewohner der Südstadt, von denen die Stadtbürger nie recht
Notiz genommen hatten, denn sie wohnten hinter dem damaligen Bahnhof am
Ettlinger Tor, in einer Gegend, die ein rechter Karlsruher kaum betrat.
Es bleibt noch zu erwähnen, daß sowohl die Spinnerei Ettlingen wie auch die
Zuckerfabrik Waghäusel sich um den Bau von Arbeiterwohnhäusern verdient ge-
macht haben. Auch die schon erwähnte Silberwarenfabrik Christofle hat Woh-
nungen errichtet, in den ersten Jahren nach ihrer Gründung insbesondere für
die aus Frankreich kommenden Fachkräfte, später auch für Karlsruher Arbeiter.
Die meisten Arbeiter, die täglich von den Dörfern nach Karlsruhe zur Arbeit
kamen, betrieben daheim eine kleine Landwirtschaft. Dies wird in allen Publi-
kationen, die sich mit den Arbeiterfragen der letzten drei Jahrzehnte des 19.
Jahrhunderts beschäftigen, als segensreich bezeichnet, da das Betreiben der Land-
wirtschaft die Arbeiter „unabhängiger von ihren Arbeitgebern“ mache, sie vor
dem Absinken ins Proletariat schütze und ihnen durch die Beschäftigung als
Ackerbauer einen „Ausgleich der öden Fabrikarbeit in frischer Luft“ gewähre.
Die Landwirtschaft wurde in Wirklichkeit, da der Mann von Fußmarsch und
Fabrikarbeit ermüdet war, überwiegend von den im Dorf gebliebenen Familien-
mitgliedern (Ehefrauen, Kindern und Großeltern) besorgt. In diesen Gedanken-
gang paßt die Wahrnehmung, daß oftmals seitens der Fabrikanten geklagt wurde,
es seien kaum Frauen als Arbeitskräfte zu bekommen. Mochten die Ehefrauen
der in der Stadt wohnenden Arbeiter noch am ehesten die Besorgung von Haus-
halt und Kindern neben einer Fabrikarbeit bewältigen: den langen Fußweg zur
Arbeit konnten die Arbeiterbauern-Frauen nicht auch noch leisten. Typisch ist,
daß mit dem Aufkommen der sogenannten Lokalbahnen sich der Anteil der nach
Karlsruhe kommenden Frauen aus den durch sie erschlossenen Dörfern erhöhte.
Das Lokalbahnnetz reichte bis Durmersheim im Süden und bis Spöck im Nor-
19 H. Krummei, Über Arbeiterwohnungen und Baugesellschaften, in: Zeitschrift für die
gesamten Staatswissenschaften 14 (1858) S. 105—149.
20 Z. B. des Karlsruher Bankiers Eduard Kölle: GLA 65/79, 80, 715.
 
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