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Schäfer, Alfons [Hrsg.]
Neue Forschungen zu Grundproblemen der badischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert — Oberrheinische Studien, Band 2: Karlsruhe: Kommissionsverlag G. Braun, 1973

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Becker, Josef; Ruffmann, Karl-Heinz [Gefeierte Pers.]: Baden, Bismarck und die Annexion von Elsaß und Lothringen: Karl-Heinz Ruffmann zum 50. Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.52720#0183
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Becker

Gerade diese außenpolitischen Folgen, der Beitrag der Annexion von Elsaß
und Lothringen zu einem renversement des alliances, zum Bündnis Frankreich/
Rußland und damit zur außenpolitischen Isolierung des Reichs, sind von vielen
kritischen Zeitgenossen befürchtet und vorhergesehen worden. Paradigmatisch
für eine verbreitete Erwartung, singulär allerdings in der Konkretheit der Pro-
gnose erscheinen die Warnungen, die im Frühjahr 1871 ein britischer Publizist
aus dem Umkreis von Bismarcks liberalem Antipoden Gladstone formulierte. Er
sagte voraus, daß die moralische Isolierung des Reichs (als Folge der Annexion von
Elsaß und Lothringen gegen den Willen ihrer Bevölkerung) besiegelt werde durch
seine politische Isolierung. Frankreich werde mit aller Macht nach Bündnispart-
nern für eine Revision der Entscheidung von 1871 suchen, und schon in naher
Zukunft werde Rußland wegen der natürlichen Rivalität mit Deutschland eine
Allianz mit Frankreich eingehen. Die Deutschen könnten nicht damit rechnen,
immer einen Bismarck zu besitzen, der die Regierung in Paris und ihre Diplo-
maten überliste, oder einen Moltke, der erfolgreich die Strategie des preußischen
Heeres lenke. In einem solchen Fall wäre England der natürliche Alliierte des
Deutschen Reiches. England aber werde nie auf der Seite Deutschlands zu finden
sein, solange zwei Millionen Menschen an den Ufern von Rhein und Mosel gegen
ihren Willen von Frankreich getrennt sein. „It is now, perhaps, the turn to
France to be dismembered“ — die deutsche Einheit sei aber noch nicht für die
Dauer erreicht, und der Tag könne kommen — so schloß der britische Publizist
unter Hinweis auf die in der napoleonischen Ära schon einmal drohende voll-
ständige Zerstückelung Preußens —, an dem eine spätere Generation von Deut-
schen die Abwesenheit Englands an ihrer Seite bedauern werde100.
Prüft man die Kriegszielpolitik der badischen Regierung im Sommer 1870
unter dem Gesichtspunkt ihrer außenpolitischen Implikationen, so stellt man
fest, daß Bedenken wegen der Rückwirkungen auf die internationale Position
des zukünftigen Reiches keine praktische Bedeutung erlangten. Das mag um so
bemerkenswerter erscheinen, als der in Karlsruhe akkreditierte italienische Ge-
sandte, Cavours früherer Sekretär Artom, der an den Vermittlungsaktionen der
neutralen Staaten führend beteiligt war, die badischen Minister eindringlich vor
den europäischen Konsequenzen einer ausschließlich oder primär an nationalen
Interessen orientierten Annexionspolitik warnte106. Das offensichtliche Defizit
Frankreich sein, und erst dann wird es auch möglich sein, Elsaß und Lothringen nach und
nach wieder ganz deutsch zu machen, durch diese deutsche Zwischenwand“ (zit. bei H. E.
Brockhaus, Stunden mit Bismarck 1871 —1878, hg. H. Michel (1929) S. 80 f. Vgl. dazu
auch — parallel? — G. v. Diest, Aus dem Leben eines Glücklichen (1904) S. 419 f.). Eine ähn-
liche Äußerung aus dem Jahre 1887 zitiert Lipgens IS. 103 f. Anm. 4 allerdings mit der
für eine definitive Beurteilung wichtigen zusätzlichen Bemerkung Bismarcks, daß solche
Pläne (hier Austausch der Bevölkerung von Posen und Elsaß-Lothringen) im Zeitalter
Karls des Gr., nicht jedoch mehr im 19. Jh. realisierbar seien. — In dem in Anm. 87
zitierten Brief meint C. Bader, daß zwar der Vogesenkamm für Deutschland notwendig sei,
nicht aber die dort lebenden „Brüder“ — diese hätten 1870 ihre Wagen parat gemacht,
um im Gefolge MacMahons Baden auszuplündern. Vgl. auch Müller (wie Anm. 9) S. 381.
105 Vgl. Scrutator [— Malcolm MacColl], Who is responsible for the War? (London
1871) S. 117 ff.
106 Vgl. Dokument Nr. 3 in dem Erstdruck S. 201 ff. und folgende Tagebuch-Notizen
Freydorfs v. 2. u. 3. September: „Artom meint, Geldentschädigung und freie Bewegung
bezüglich der Einigung Deutschlands wäre ein für Deutschland annehmbares Ergebnis
 
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