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ULRICH BAYER
Wer fährt mit allen nach Berlin, Taize und Grindelwald? [...]14.
Den dann in den 60er und 70er Jahren zu beobachtenden Funktionswandel des Pfarr-
hauses beschrieb Eberhard Winkler: »Es war immer problematisch für die Pfarrersfami-
lie, einerseits soziale Barrieren zu den Mitmenschen überwinden zu müssen, anderer-
seits im >Glashaus< zu leben unter der Erwartung, ein vorbildliches Christenleben zu
führen. [...] Die Rollen des Pfarrers als der zentralen kirchlichen Bezugsperson, als Bür-
gen für und Repräsentanten von bleibenden Werten, als eines Vorbildes und Beraters
wurden bisher vom Pfarrhaus mitgetragen. Die Pfarrersfamilie legt mehr und mehr Wert
darauf, ihr eigenes Leben neben dem Pfarrberuf zu führen. Schritte dazu waren die
Berufstätigkeit der Pfarrfrau und der Ehemänner von Pfarrerinnen sowie die Über-
nahme von Kontaktaufgaben durch Gemeindebüros und dergleichen. Das Ideal des
ständig offenen und dienstbereiten Pfarrhauses lässt sich nicht halten. [...] Die aus den
Gemeinden und aus der Gesellschaft an die Pfarrer gerichteten Erwartungen lassen sich
nicht mehr selbstverständlich auf die Pfarrersfamilien ausdehnen«15.
Ähnlich äußerte sich Mitte der achtziger Jahre der Heidelberger Sozialethiker Heinz-
Eduard Tödt: Auch sonst ist die Stellung des Pfarrhauses tief verändert [...]. Die Gemein-
deaktivitäten lösten sich vom Pfarrhaus [...]. Im Pfarrhaus hat sich eine viel abgeschlos-
senere Privatsphäre herausgebildet'1'.
Der Theologe Dietrich Stollberg hinterfragte zur gleichen Zeit mögliche Konfliktpo-
tentiale, die die Institution Pfarrhaus in sich trägt: Bürgerliches Ordnungsdenken und
die Idee vom Vorbildcharakter des Pfarrhauses\...\ sind zu konfliktträchtigen Faktoren
des Familienlebens geworden: Der Gemeinde soll eine heile Welt vorgelebt werden, die
Realität sieht freilich anders aus und muss dann folglich verdeckt werden17.
Zu einer völligen Infragestellung des klassischen Pfarrhaus-Begriffs kam schließlich
1984 der in Heidelberg lehrende Soziologe Kristian Hungar. Er plädierte dafür, den
Pfarrer ähnlich wie einen Arzt oder einen Psychotherapeuten zu sehen und statt vom
Pfarrhaus von einer Pfarrpraxis zu sprechen. Pfarrers-Ehe und Pfarrhaus spielten in
seinem Entwurf keine Rolle mehr, konsequenterweise sprach er sich auch für die Auf-
hebung der Residenzpflicht aus18.
14 Der volle Text des »Loblieds auf die Pfarrfrau« im Beitrag Gerner-Wolfhard (in diesem
Band).
15 E. Winkler, Art. Pfarrhaus, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE) 26 (1996), S. 374-
379, hier S. 377.
16 H.E. Tödt, Krieg und Frieden im Milieu des evangelischen Pfarrhauses, in: M. Greiffen-
hagen, Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984,
S. 357-377, hier S. 376. Für die Pfarrhausdiskussion Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre
ebenfalls instruktiv: R. Riess (Hg.), Haus in der Zeit. Das evangelische Pfarrhaus heute,
München 1979. Ganz aktuell erschienen ist ein Gesamtüberblick über die sozial- und kultur-
geschichtlichen Aspekte der Pfarrhausgeschichte: Ch. Eichel, Das deutsche Pfarrhaus. Ein
Hort des Geistes und der Macht, Köln 2012.
17 D. Stollberg, Das Pfarrhaus als psychotherapeutische Ambulanz und als Psychopatient, in:
Greiffenhagen, Pfarrhaus (wie Anm. 15), S. 395-411, hier S. 398.
18 Vgl. K. Hungar, Pfarrer - ein freier Beruf? Die Verantwortung der Laien für den Pfarr-
dienst, in: Lutherische Monatshefte 23 (1984), S. 10-12. Für die Badische Kirchenleitung war
diese Position nicht akzeptabel, sie reagierte mit dem Ausschluss Hungars aus der Examens-
ULRICH BAYER
Wer fährt mit allen nach Berlin, Taize und Grindelwald? [...]14.
Den dann in den 60er und 70er Jahren zu beobachtenden Funktionswandel des Pfarr-
hauses beschrieb Eberhard Winkler: »Es war immer problematisch für die Pfarrersfami-
lie, einerseits soziale Barrieren zu den Mitmenschen überwinden zu müssen, anderer-
seits im >Glashaus< zu leben unter der Erwartung, ein vorbildliches Christenleben zu
führen. [...] Die Rollen des Pfarrers als der zentralen kirchlichen Bezugsperson, als Bür-
gen für und Repräsentanten von bleibenden Werten, als eines Vorbildes und Beraters
wurden bisher vom Pfarrhaus mitgetragen. Die Pfarrersfamilie legt mehr und mehr Wert
darauf, ihr eigenes Leben neben dem Pfarrberuf zu führen. Schritte dazu waren die
Berufstätigkeit der Pfarrfrau und der Ehemänner von Pfarrerinnen sowie die Über-
nahme von Kontaktaufgaben durch Gemeindebüros und dergleichen. Das Ideal des
ständig offenen und dienstbereiten Pfarrhauses lässt sich nicht halten. [...] Die aus den
Gemeinden und aus der Gesellschaft an die Pfarrer gerichteten Erwartungen lassen sich
nicht mehr selbstverständlich auf die Pfarrersfamilien ausdehnen«15.
Ähnlich äußerte sich Mitte der achtziger Jahre der Heidelberger Sozialethiker Heinz-
Eduard Tödt: Auch sonst ist die Stellung des Pfarrhauses tief verändert [...]. Die Gemein-
deaktivitäten lösten sich vom Pfarrhaus [...]. Im Pfarrhaus hat sich eine viel abgeschlos-
senere Privatsphäre herausgebildet'1'.
Der Theologe Dietrich Stollberg hinterfragte zur gleichen Zeit mögliche Konfliktpo-
tentiale, die die Institution Pfarrhaus in sich trägt: Bürgerliches Ordnungsdenken und
die Idee vom Vorbildcharakter des Pfarrhauses\...\ sind zu konfliktträchtigen Faktoren
des Familienlebens geworden: Der Gemeinde soll eine heile Welt vorgelebt werden, die
Realität sieht freilich anders aus und muss dann folglich verdeckt werden17.
Zu einer völligen Infragestellung des klassischen Pfarrhaus-Begriffs kam schließlich
1984 der in Heidelberg lehrende Soziologe Kristian Hungar. Er plädierte dafür, den
Pfarrer ähnlich wie einen Arzt oder einen Psychotherapeuten zu sehen und statt vom
Pfarrhaus von einer Pfarrpraxis zu sprechen. Pfarrers-Ehe und Pfarrhaus spielten in
seinem Entwurf keine Rolle mehr, konsequenterweise sprach er sich auch für die Auf-
hebung der Residenzpflicht aus18.
14 Der volle Text des »Loblieds auf die Pfarrfrau« im Beitrag Gerner-Wolfhard (in diesem
Band).
15 E. Winkler, Art. Pfarrhaus, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE) 26 (1996), S. 374-
379, hier S. 377.
16 H.E. Tödt, Krieg und Frieden im Milieu des evangelischen Pfarrhauses, in: M. Greiffen-
hagen, Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984,
S. 357-377, hier S. 376. Für die Pfarrhausdiskussion Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre
ebenfalls instruktiv: R. Riess (Hg.), Haus in der Zeit. Das evangelische Pfarrhaus heute,
München 1979. Ganz aktuell erschienen ist ein Gesamtüberblick über die sozial- und kultur-
geschichtlichen Aspekte der Pfarrhausgeschichte: Ch. Eichel, Das deutsche Pfarrhaus. Ein
Hort des Geistes und der Macht, Köln 2012.
17 D. Stollberg, Das Pfarrhaus als psychotherapeutische Ambulanz und als Psychopatient, in:
Greiffenhagen, Pfarrhaus (wie Anm. 15), S. 395-411, hier S. 398.
18 Vgl. K. Hungar, Pfarrer - ein freier Beruf? Die Verantwortung der Laien für den Pfarr-
dienst, in: Lutherische Monatshefte 23 (1984), S. 10-12. Für die Badische Kirchenleitung war
diese Position nicht akzeptabel, sie reagierte mit dem Ausschluss Hungars aus der Examens-