Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Der Orchideengarten

Phantastische Blätter

Herausgeber Karl Hans Strobl

Zweiter Jahrgang

Schriftleiter Alf von Czibulka

Zehntes Heft

IWAN DER SPIELER

Ein russisches Märchen.

erzählt von K. R o el 1 i n gf h of f - R a s ko ln i k o w. (Mit 2 Zeichnungen von Paul Humpolctz.)

Hinter dreißig Ländern, hinter dreißig
Meeren lebte einmal in einer Stadt mit
hundert Türmen und hundert Schlössern ein
Ehepaar.

Der Mann Kiel? Iwan und die Frau Mascha*
Und Mascha war so schön und licht wie
die rote Sonne. Ihre weichen Wangen waren
wie Milch und Blut, und ihre schwarzen Haare
flössen bis an ihre kleinen Füße, wie Meeres-
wellen bei Nacht. Und wenn sie sprach, dann
schwiegen die Nachtigallen im ^Valde und
dachten: „Oh, könnten wir doch so singen.'
Aber sie konnten es nicht, und darum schwie-
gen sie.

Und Iwan war kräftig und schlank wie eine
Tanne, und sein Haar schimmerte golden und
war weich und voll wie Waldmoos. Und
wenn er sprach, dann schwiegen die Tiere im
Wald und dachten: „Oh, wäre doch auch un-
sere Stimme so laut und mächtig.“ Aber seine
Stimme übertönte alles und darum schwiegen sie.

Sieben Jahre lang lebte das Ehepaar ruhig,
glücklich und zufrieden. Und als sie ihren
siebenten Hochzeitstag feierten, hatte Mascha
weiße Kuchen gebacken und Honig und ^Vein
auf den Tisch gestellt. Und viele Gäste waren
geladen. Sie feierten und tranken und sangen
so laut und kräftig, daß die hundert Türme auf
den hundert Schlössern der Stadt zitterten.
Und die Gäste kosteten vom Wein und fanden
ihn bitter.

„Der Wein ist bitter, Herr Wirt! Der
Wem ist bitter, Frau Wirtin!“ schrien sie.

Und Iwan und Mascha küßten sich dreimal,
und der Wein wurde süß.

Und plötzlich ging die Tür ganz von allein
auf und ein sonderbarer Gast kam in die Stube:
machte er eine Bewegung, so klapperte es an
ihm wie Holz und Blech; die Kleider flatter-
ten an seinem Leibe wie Laub an den Bäumen,
und um sein Haupt war ein großes Tuch ge-
schlungen, so daß man sein Gesicht nicht sah;
außerdem trug er einen übergroßen Hut.

Und der fremde, sonderbare Gast warf keinen
Blick auf die Heiligenbilder in der Ecke und
bekreuzigte sich nicht und sagte keinen Gruß,
sondern trat ohne weiteres an den Tisch, setzte
sich, ergriff einen Becher und begann zu trinken.
Dabei klapperten seine langen Hände, und als
die Gäste genau hinsahen, da waren es weiße
blanke Knochen. Und über dem Rücken hing
ihm eine lange Sense herunter, deren Klinge
im Lampenlicht blitzte.

Und Mascha begann zu weinen, weil dieser
sonderbare Gast ihrer Schönheit und ihres
Glückes nicht achtete und weder ihr noch
ihrem Mann, noch den Gästen einen Gruß ge-
boten hatte.

Und die ehrbaren Gäste blickten erstaunt
auf Iwan, und der ärgerte sich, stieß seinen
Glasbecher so hart auf den Tisch, daß er in
tausend und abertausend Scherben zersprang,
und sprach zu dem Fremden:

„Liebwerter Gast! Die Sonne schien hell,
aber Schneewolken haben sie verdeckt; hundert
Wege führten durch den Forst, aber Schnee-

I
 
Annotationen