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Pan <Berlin> — 1.1895-96 (Heft III, IV und V)

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https://doi.org/10.11588/diglit.3186#0194
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Mit einem Mal jedoch fing sie an sich zu freuen, wenn
der wildfremde Mensch sich zu ihnen einlud ... obgleich sie
sich eigentlich über ihn ärgerte, denn die ganze Art, wie er
mit ihr sprach und wie er ihr antwortete, hatte so etwas
von oben herab belehrendes und zurechtweisendes, als ob
sie . . . als ob sie ein Kind wäre, oder als ob die Probleme
und Fragen, die er mit dem Vater durchstritt, überhaupt nur
Fragen für Männer wären, und sie gar nichts angingen.

Nein! ... sie wollte ihm zeigen, dass auch eine Frau sehr
wohl mitreden könne bei solchen Dingen und dass sie so gut
Bescheid wisse, als mancher, der sich wunder was einbilde.

Und gerade in Literaturgeschichte, die sie wirklich durch-
gearbeitet hatte, mit ihrem Vater zusammen, von Uranfang an
und philologisch gründlich! Es war ja arg trocken und lang-
weilig mitunter und für seine mittelhochdeutschen Heiligen
konnte sie sich nicht begeistern, beim besten Willen nicht!
Und ausserdem handelte es sich auch fast immer nur um die
"Werke, und das Leben der betreffenden Dichter hätte sie weit
mehr interessiert. Sie hatte wohl ein Dutzend Biographien
von Goethe gelesen, in keiner aber stand, was sie eigentlich
gern gewusst hätte ... Dinge, Geschichten, wie sie Jost von
seinen „Modernen" erzählte und von sich selber.

Und es war eine ganz neue Welt, die sich damit vor
ihr aufthat. Eine Welt, von der sie bisher keine Ahnung
gehabt; eine Welt ohne die festen Gleise, in denen sie glaubte
dass sich das Leben abspielen müsse.

Sie hatte ja wohl allerlei gelesen und erzählt bekommen,
da und dort, wie leichtsinnig, wie überleichtsinnig und frivol
es in solchen Künstler- und Schriftstellerkreisen zugehe
und in welch ungeordneten Verhältnissen sich die meisten
herumtrieben, und wie ihnen nur wohl wäre, wenn sie sich
rücksichtslos über Alles was Sitte und Anstand hiess, hinweg-
setzen konnten — und das hatte sie nie besonders neugierig
gemacht. Der Vater dachte ähnlich und so war sie auch nie
mit „so jemand" zusammengetroffen, um sich ein eigenes
r eil bilden zu können, zumal sie die letzten zwei Jahre, so
lang die Mutter krank lag, überhaupt kaum aus dem Haus
gekommen war. Es waren Menschen, mit denen man viel-

11 AAleid haben konnte>besten Falles;aber sonst • • ?

seil i u rfat ihr nUn Plötzlicb- einer dieser verrufenen Ge-
unK -u g Und AuS in AuSe gegenüber und ein noch

_noeruhmter sogar und das sollten die tollsten sein! und be-

nahm sich

wie ein Mensch aus guter Familie und äusserte

siens'chten' die sie höchst vernünftig nennen musste, obgleich
Vj i,"^3 dle sie für unangreifbar und für feststehend in
* e Zeit und Ewigkeit gehalten hatte, einfach über den
saufen warfen. Und sie sah in eine Welt voll steter Auf-
liS!*?5' b° unablässiger> ernstester Arbeit, voll unermüd-
eine W i ^ Um daS Höchste> das es vielleicht gab! in

brochenem A^ A™» "^ ^ glidl mk UnUnter_
wobei .^T^-^sten-sein-müssen! Tag und Nacht!

handelt a- Jedem in Jedem Augenblick um Alles

in der <; Uif-Vn er keine Woche so ™hig verlief, als in der,
^ der^sie blsher gelebt, ganze Jahre! &

trug ein ander^srr1StUrm ha"C ö Sie erfaSSt" AüeS Plötzlich
was sie hörte'" S1?bt- Das ganze Getriebe um sie her,

einen tieferen'Si^ Sle.las> was sie selber that . . . bekam

wäre. Es blieb äu * V^u^ ^S °^ etWas anders geworden

aber, das sich bishe ■ ^^ beim Alten* Ihr ganzes Leben

er eigentlich nur in lauter Nichtigkeiten

und in Spielerei zerflattert hatte, straffte sich, verinnerlichte
sich und gewann einen Inhalt, einen Zweck. Welchen?! das
wusste sie freilich selbst noch nicht, aber sie fühlte, dass sich
etwas herausgestalten wollte und in den Vordergrund drängte.
Eine Art Ahnung dämmerte in ihr auf: dass es sich in Zu-
kunft auch bei ihr um andere Dinge handeln und wohl
auch nicht Alles mehr so glatt gehen werde, wenn . .. wenn
der Vater einmal tot und sie allein wäre . ..

Dass es auch bei ihr dann gälte: . . . auf dem Posten
zu sein! Sie hatte ja wohl öfter darüber nachgedacht,
wie das sein würde, immer aber nur mit einer geheimen
Sorge . . . und ganz plötzlich nun freute sie sich fast darauf
und wünschte beinahe, jetzt schon ihre Kraft erproben zu
können, jetzt schon ... so, wie Jost!

Ja! Er lebte gleichsam das Leben, das sie selbst gern ge-
lebt hätte! er kämpfte einen Kampf, den sie selbst gern ge-
kämpft hätte! und für ein Ziel ... ja! das auch ihr Ziel
gewesen wäre, wenn ihr die Möglichkeit dazu gegeben, wenn
sie als Mann auf die Welt gekommen . .. oder, wenn .. .
Noch ehe sie sich verlobt hatten aber, war es dann los-
gegangen. Kein Kampf freilich, wie sie gedacht hatte, nur ein
müde-machendes Sich-wehren-müssen gegen kleinliche Er-
bärmlichkeiten.

So lange Papa gelebt, hatte niemand was gewagt. Kaum
jedoch war sie vom Kirchhof zurück, als der Klatsch anfing.
Zunächst im Haus natürlich, von einem Stockwerk zum
andern, und dann auch draussen bei den verschiedenen lieben
Freunden und Bekannten. Berlin ist da ja schlimmer als die
schlimmste Kleinstadt. Ganz gelegentlich und in aller Liebens-
würdigkeit : Es sei ein so netter Mensch, aber es gehe nun
doch kaum mehr, dass der Herr Doktor so oft komme, da
sie ja nun ganz allein sei! und dergleichen.

Sie hatte erst dazu geschwiegen, bis es immer toller und
toller wurde und sie der betreffenden Nachbarin eines Abends,
ebenso freundlich als deutlich erklärte: wenn sie ihr nichts
anderes zu erzählen habe, als was man im Haus über sie rede,
so möge sie ihren Besuch ruhig abkürzen!

Daraufhin wurde es freilich nur noch viel ärger: das sei
ja der beste Beweis, wie Recht man habe.

Sie entliess das Dienstmädchen, das sie bisher gehabt, es
war ja nichts mehr zu thun, und nahm eine Aufwärterin,
die täglich ein paar Stunden kam und dann wieder ging.

Natürlich! weil es ihr unbequem war, jemand in der
Wohnung zu haben, der ... Augenzeuge sein könnte!

Ganze Romane wurden über sie zusammengeklatscht,
auf Vorder- und Hintertreppen, und bei dieser oder jener
Gelegenheit ihr andeutungsweise beigebracht.

Sie hätte nie geglaubt, dass die Leute so gemein sein
könnten, und Leute, die sich zu den anständigen und ge-
bildeten rechneten ... In aller Harmlosigkeit vielleicht!

Sie hatte sich zuerst darüber aufgeregt, ein paar Mal sogar
geweint, mit der Zeit jedoch ... es grenzte nachgerade ja
schon an Blödsinn!

Die Aufwärterin hatte ein zwei bis dreijähriges kleines
Mädchen, das sie zuweilen mitbrachte. Da es ein hübsches
Kind war und sie Kinder überhaupt gern hatte, behielt sie-^s
dann und wann bei sich, wenn die Mutter eine Arbeit vor-
hatte, wobei es ihr hinderlich war. Irgend jemand im Haus
hatte es dann wohl einmal „Mama" rufen hören . . . und
die Geschichte war fertig! Das Kind war natürlich ihr Kind,

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