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Seit einigen Tagen les' ich in der Bibel. Das Exemplar, das Frau Haberland in
ihrem Schmuckschrank hat, machte mir Lust dazu. Es ist eine schöne alte Familienbibel,
in Quartformat, aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, ein wahrer Kolofs, solid in
braunes Leder gebunden, mit zwei Messingverschlüssen, jeder eine Figur, ein Apostel
wohl oder was sie sonst derart vorstellen mögen. Dieser Duft, dieses dicke vergilbte
Papier, diese fetten Lettern und die Familienchronik mit ihrer altfränkischen Schnörkel-
schrift gaben mir wieder mal Geschmack zu dieser Lektüre. Die Madame war so
liebenswürdig, mir das ehrwürdige Monstrum anzuvertrauen. Kaum ein Tag vergeht nun,
an dem ich nicht über diesen braven altväterlichen Holzschnitten und diesen köstlichen
Drucktypen säfse und mein Pensum erledigte.

Wenn's das Wetter irgendwie erlaubt, sitz' ich dabei am liebsten hinten im Garten,
in der Pfeifenkrautlaube. Vornehmlich bei der Lektüre der Patriarchenhistorien war es die
günstigste Umgebung. Man sieht über die Rotdornhecke hinweg auf die Hügel und da
hat denn wohl die grofse Schafherde von der Schlofsdomäne ihr Wesen; man hört die
gelben Wolfshunde kläffen, man hört das Trappeln und Rauschen der erschreckten Tiere,
die von ihnen beieinandergehalten werden. Man gewahrt die Gestalt des Schäfers in
seinem langen blauen Schofsrock mit den blanken Messingknöpfen, dem breiten Ledergurt
quer über die Brust, mit seinem altfränkischen Filzhut und seinem Schleuderstab; man
hört seine Zurufe, oder wie er auf die Hunde schilt — Laban und Jakob, Joseph und
David — oder man hört die Laute des Geflügels, der Haustiere, Pferdegewieher aus der
Nachbarschaft, oder das Brüllen einer Kuh . ..

Gegenwärtig les' ich mich in die Propheten hinein.

Da ist z. B. eine Stelle aus dem Propheten Daniel. Der Bericht von seiner letzten
Vision. — „Zur selbigen Zeit war ich", Daniel, traurig drei Wochen lang. Ich afs keine
lockere Speise; Fleisch und Wein kam in meinen Mund nicht und salbte mich auch nie,
bis die drei Wochen um waren. Und am vierundzwanzigsten Tage des ersten Monats
war ich bei dem grofsen Wasser Hiddekel. — Und hub meine Augen auf, und sah, und
siehe, da stund ein Mann in Leinwand, und hatte einen güldenen Gürtel um seine Lenden.

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