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wissen und das Schäflein des armen Mannes noch dazu.
Das andere Gesicht aber blickt offen, frei und ehrlich hinaus
ins Ungewisse, bereit, vom Schicksal zu erkämpfen, was es
ihm und der Menschheit bisher schuldig blieb. Mit zweiund-
zwanzig Jahren schrieb Charlotte Leffler das Drama
„die Schauspielerin", die Lebens- und Leidensgeschichte
einer jungen, hochbegabten Künstlerin, die, an einen biederen
Kleinstädter verheiratet, schwere Kämpfe zwischen spiefs-
bürgerlichen Anschauungen, künstlerischer Begeisterung,
Selbstbewufstsein, Liebe und Pflicht zu bestehen hat. Die
Verfasserin, unglücklich in ihrer eigenen Ehe, läfst in allen
ihren folgenden "Werken eine Reihe von Frauengestalten auf-
treten, die sich entweder, wie „Nora", nach einem hohlen
Scheinleben auf sich selbst besinnen oder ihre vollbewufste
Individualität aus Liebe aufgeben, um nach kurzem Rausch
und Selbstbetrug die Freiheit ungestüm zurückzufordern.
Frauen wie Ulla (Ein Sommeridyll) und Arla (Im Krieg mit
der Gesellschaft) ziehen mit blutendem Herzen, gleich Nora
Helmer, aus ihrem gut bürgerlichen Glück hinaus, um ihrer
Pflicht gegen sich selbst zu genügen, ihr Individuum zu
bilden — Charlotte Leffler verlangt, „dafs in der Ver-
einigung zwischen Mann undFrau es nicht notwendig die Frau
sein müsse, die sich selbst aufgiebt, sondern die am wenig-
sten entwickelte geistige Individualität. In leiden-
schaftlichem Pochen auf ihr Anrecht an das Glück begehren
diese nordischen Vollnaturen „Alles oder Nichts". Schade
nur, dafs sie nicht gegen die Liebe gefeit sind und durch
diese Schwäche eine Menge heiliger Pflichten und Verant-
wortungen auf sich laden, von denen sie das Verlangen, ihr
Ich zu bilden, nicht befreit.

Charlotte Leffler zeichnet sich durch treffliche Milieu-
schilderungen aus. Jedoch den Stempel eines konsequenten
Naturalismus, der fest auf die Theorien vom Milieu auf-
baut, tragen nur wenige jungschwedische Autoren. Das wirk-
lich rohe Element dieser litterarischen Schule vertritt nur
Strindberg — es ist mehr Sache der düsteren, praktischen
Norweger. Es steckt zu viel träumerisch poetischer Sinn in
den Schweden, so dafs sie selbst den allergetreuesten Schil-
derungen von Land und Leuten einen gemütvollen, idylli-
schen Hintergrund verleihen müssen. Wie trefflich gezeichnet,
wie naturgetreu sind die Bilder eines Hedenstjerna, und
doch wie viel Gemütstiefe, wie viel köstlicher Humor steckt
in ihnen. Und trotz aller schreckenerregenden Umstürzler-
programme stofsen wir, ehe wir's erwarten, auf ein gründ-
liches Abschweifen ins Phantastische, ja Mystische. Ein
schlagendes Beispiel hierfür bietet Gustav af Geijerstam,
der heute in hohem Grade die Geister fesselt. Er schrieb
einen wackeren naturalistischen Roman von einem Studenten,
der die ausgetretenen Pfade der Alten mied, all seine kleinen
Lebensfreuden seinen hohen Prinzipien opferte, um als Schrift-
steller mit dem Herzen die traurigen Vorkommnisse des Alltags-
lebens zu schildern. So traurig, wie die Novellen seines
Helden „Erik Grane", sind seine eigenen Erzählungen: Frän
det yttersta skäret, Kampen om kärlek; Erik Grane. Nur zu
oft zeigt er den Zusammenstofs alter, streng religiöser
und moralischer Begriffe mit der Freigeisterei der Jugend, ein
Zusammenstofs, der in Landen, wo das Volk noch zäh am

Glauben der Väter festhält und wo es Priester wie Brand und
Pastor Sang giebt, doppelt hart werden mufs.

Geijerstam ist niemals roh oder brutal, obwohl er auch
gern in die niedersten Schichten der Bevölkerung hinabsteigt.
Sein Werk, auch soweit es dem Naturalismus angehört, be-
sitzt die herbe Keuschheit der nordischen Marmorwerke, denen
die Sinnenglut des Südens fremd ist. Das sinnliche Element
tritt bei den Schweden im Gegensatz zu vielen Erscheinungen
moderner Litteratur nicht besonders in den Vordergrund; es
ist nur da zu finden, -wo es ein zur Entwickelung der Cha-
raktere notwendiges Element bildet. Ueber all dem Schauen
und Gestalten der Menschheit wie sie ist, beginnt Geijer-
stam plötzlich sie nicht mehr zu begreifen. Die Erscheinungs-
welt genügt ihm nicht: er will nach dem Wesen der Dinge
forschen.

„Je mehr wir sehen und je mehr wir vom Menschen
und vom Menschenleben verstehen lernen, um so fester
müssen wir unsern Blick auf das Rätselhafte im Menschen-
leben richten, und auf unserer Wanderung durch die Welt
werden -wir dann nie vergessen, dafs das Rätselhafte und
Unerklärliche unsern Blick beschränkt und unser Geschick

isoliert.--------Ich habe mich immer zu solchen Menschen

hingezogen gefühlt, deren Leben ausserhalb der Sphäre der
Erfahrung anderer Menschen zu stehen scheint, weil ich
meinte: wenn ich ihr Geschick sehe, dann stehe ich am
Rande der Möglichkeit, hinter der sich die Antwort auf das
Sphinxrätsel verbirgt, dessen Lösung wir mit unserem Leben
bezahlen." So sagt Geijerstam in seinem Roman „Ivar
Lyth". Und nun entrollt er in ergreifender Weise das Schicksal
eines einsamen Mannes, eines von lasterhafter Mutter ge-
borenen Arbeiters, der zu einem ewig grübelnden Menschen
heranwächst, sich nie Antwort auf die quälenden Fragen nach
dem Warum seines Daseins zu geben vermag, hin und wieder
blinden Instinkten und elementaren Leidenschaftsausbrüchen
gehorchen mufs und schliefslich seinen Lieblingssohn ertränkt,
in dem dunklen Bewufstsein, ihn vor dem Leben zu retten.

„Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Pastor, als Mensch in
höchster Not", fragt er den Geistlichen, der ihn im Kerker
besucht. „Können Sie mir sagen, was kein Anderer mir hat
sagen können? Können Sie mir den Weg zeigen, um Ver-
söhnung zu finden? Oder können Sie mir wenigstens sagen,
weshalb ich die Todsünde begangen habe und mit meinen
eignen Händen das Leben meines Kindes erstickte. Sagen
Sie mir die Wahrheit!"

Geijerstam schliefst mit den Worten: Was hätte der
Pastor wohl antworten sollen? Ich weifs es nicht. Er
läfst die Frage offen, das ewige Sphinxrätsel des Lebens:
Warum bist du in die Welt hineingestossen worden, um nur
zu leiden? Nur der Form nach blieb er Naturalist; sonst ge-
hört er zu den Uebergangsnaturen, die in unendlichem Mit-
leid vor dem Leid der Welt erbeben und grübelnd, selbst-
quälerisch, zweifelnd und verzweifelnd nach dem Sinn des
Lebens forschen. Er findet nicht, wie Edouard Rod in
seinem „Sens de la Vie" die Antwort: Das Leben hat nur
einen Sinn für die, welche lieben und glauben, sondern giebt
in seinem neuesten Roman: „Das Medusenhaupt" (Medusas
Hufvud) eine erschütternde Tragödie menschlicher Unvoll-
kommenheit. Hier stehen zwei hochbegabte, durchaus modern
fühlende Menschen, ein Idealist und ein Streber, der sich
selbst betrügt, vor dem Medusenhaupt des Lebens und sinken

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