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Ich liebe es im witternden Zwielicht des wer-
denden Tages, wenn es still und glatt sich in zwei
Meere teilt. Ich sehe, wie die stille Fläche sich
am Horizont emporschiebt, wie sie sich mit dem
Himmel vermählt, mit breiten purpurnen Zungen
an seinem Dunkel sich emporleckt, weit empor —
ich sehe über dem himmelgewordenen Meere rote
Paläste und Wundergärten erblühn, zu allen Seiten
phantastische Formen spriefsen: zerfetzte, riesige
Farrenkräuter, krystallklar gegliederte Palmenblätter,
Orchideenkelche, die den ganzen Osten mit glü-
henden Schweifen peitschen.

Ich liebe es an schwülen Mittagen, wenn die
Sonne über das Wellengekräusel ihren Diamantstaub
schüttet, wenn Milliarden und Abermilliarden win-
ziger Krystalle in tollem Geflimmer mit stechenden
Lichtern über den grofsen Mutterschofs tanzen.

Ich liebe es, wenn die Windsbraut es aufwühlt
und seine Wogen über den Horizont hochbuchtet
und schwer wie Steingeröll in wildem Ringkampf
ans Ufer wälzt.

Aber über Alles lieb ich es, wenn die Ewig-
keit die schwere Trauer des Abendrotes über seine
brütende Schwermut blutet:

Da lieb ich es am meisten und sitze stunden-
lang und horche.

Um ewig stille, schneebewachsene Höhen wälzt
die Nacht in schwarze Tiefen ihre dunkle Last.

Die Felswand hinab, in tauber Ruhe, behüten
Schatten das stille Sonnengrab.

Schon glüht das Schweigen um die Felsengründe,
schon spinnen Sterne über dem Wasser ihre ersten
Träume, schon buchtet sich das Meer mit leuch-
tenden Nebeln die Himmelssäume hinauf:

Vergifs, Herz, vergifs!

Und aus der Blume der Ewigkeit, die auf dem
Schnee der gipfelhehren Berge wächst, blüht ein
dunkles Lied über das Meer. Tastend strömt
es über die Flut, gleitet mit leisen Fingern über
ihr Gekräusel wie über Perlen eines Rosen-
kranzes, schon glänzt es über alle Weiten:

In hundert Jahren ist Alles vergessen!

Und die Andacht des Meeres, das Licht, das
seinen Gründen entquillt und sich vom Himmel

aus Sternenkelchen ergiefst, das Lied der Berge,
das seine Kränze von Ewigkeit zu Ewigkeit flicht,
dies Alles nur Ein Ton, Ein Traum, Ein Glück:

Alles vergessen!

Und nun breitet meine Seele ihre traumschweren
Flüge], — von einem Himmelssaum zum andern um-
fängt sie das Meer mit schlaftrunkenen Armen,
und Herz an Herz ruhen wir Beide, Ich und das Meer.

Denn nie noch hat das Meer je einen Sterb-
lichen geliebt, so wie es mich liebt.

Denn meine Seele ist das Meer. Dieselben
uferlosen Formen, dieselbe schäumende Freiheits-
pracht, derselbe Aufruhr und Ueberschwang.

Und das Meer verlangte nach mir, und lange
Jahre lebte ich mit ihm allein zusammen, und
träumte mein Herz mit seinen Melodien in den
Schlaf und wuchs erwachend mit seinem Morgen-
rot in den Himmel hinauf.

Aber Einmal, als die Abendstunde kam und
das Meer seine heilige Nachtmesse zu singen be-
gann, sah ich sie kommen, das Weib mit den
Sternenblicken, das Weib mit der Stimme des
Meeres, das Weib, nach dem ich einst gesucht hatte.

Wie eine Sturmtaube kam sie, eine verirrte
Möve, die endlich ihre Heimat findet.

Ueber Tausende Meilen, über Flüsse und Berge
war sie gekommen, dem Abendsterne folgend, der
im Osten des Meeres scheint.

Und als sie aus dem Walde trat, der an den
Ufern des Meeres wächst, stürzte sie langhin auf
ihr Gesicht und weinte lautlos:

Das warst Du!

Und ich nahm Dich auf meine Arme und trug
Dich in meine Hütte.

Deine Füfse waren von der harten Wanderung
wund und bluteten.

Und ich wusch Deine Füfse und küsste die
heiligen Wundmale.

Wir blieben zusammen.

*

Um uns schrieen lautlos die Blitze

Aber das Meer grollte. Denn in den Stürmen
unseres Glückes vergafsen wir seine Schönheit.

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