KATE KOLLWITZ, ARBEITER, VOM BAHNHOF KOMMEND
TAGEBUCH-AUFZEICHNUNGEN UEBER
ARNOLD BOECKLIN VON RUD. SCHICK
HERAUSGEGEBEN VON HUGO VON TSCHUDI
FORTSETZUNG
ERFAHRUNGEN IN BASEL
1868
28. Oktober 6 8.
Mittwoch. Schöner Herbstnachmittag. Mit Böcklin
über Mönchenstein nach Ariesheim.
Bei den waldigen Abhängen in Ariesheim erinnerte sich
Böcklin eines wunderschönen Frühlingsabends, den er dort
erlebt. Die "Wiese üppig voller Blumen, die Bienen summend
und drei Mädchen Arm in Arm singend über die Wiese gehend.
Man sollte einen Kunstjünger nie auf das Botanische
und auf naturhistorische Genauigkeit führen, sondern
ihn vielmehr nur dazu anleiten: wenn er etwas Schönes sieht,
sich zu fragen, warum es so schön auf ihn wirke. Man
findet immer eine Antwort. Entweder ist es schöne Licht-
und Schatten- oder Farbenverteilung im Raum, oder es sind
die Mafse, die die Gegenstände zu einander haben etc.
Wenn einem etwas Schönes in der Natur auffällt, so
liegt das nicht immer an der augenblicklichen subjektiven
Stimmung. Sondern, wenn man z. B. an der Via Flaminia
entlang geht und die Felsen beschaut, so wiederholt sich oft:
senkrechte Felsen, oben die Ebene und am Rand immergrüne
Eichenbüsche. Man wird wohl an einem grofsen Teil
gleichgiltiger vorübergehen. Plötzlich aber fällt einem eine
Stelle mit denselben Gegenständen ganz besonders auf, und
dann ist es gewifs eine der genannten Ursachen der Schön-
heit und Harmonie, die einen frappierte und die man gewifs
beim weitern Nachforschen herausfindet. Dieses Heraus-
finden der Ursachen des Malerischen in Natur und Kunst sei
Hauptaufgabe eines Kunstjüngers, und er versäume nicht, es
fortwährend zu üben. Und das hätten auch die Venezianer
als Hauptsache betrachtet und oft geübt. Schnitte man einen
Kopf aus ihren Bildern heraus, so würde gewifs nicht so
besonders viel Natur darin zu finden sein. Er ist aber male-
risch zusammen mit seiner Umgebung erdacht und daher im
Bilde schön.
So auch RafaeFs Bilder. Wenn daher neuere Maler von
Rafael stehlen, so verliert es meistens die Schönheit, denn es
fehlt der Zusammenhang wie der Zusammenklang mit dem
Uebrigen, mit dem es zusammen geschaffen.
C 177 D
23
TAGEBUCH-AUFZEICHNUNGEN UEBER
ARNOLD BOECKLIN VON RUD. SCHICK
HERAUSGEGEBEN VON HUGO VON TSCHUDI
FORTSETZUNG
ERFAHRUNGEN IN BASEL
1868
28. Oktober 6 8.
Mittwoch. Schöner Herbstnachmittag. Mit Böcklin
über Mönchenstein nach Ariesheim.
Bei den waldigen Abhängen in Ariesheim erinnerte sich
Böcklin eines wunderschönen Frühlingsabends, den er dort
erlebt. Die "Wiese üppig voller Blumen, die Bienen summend
und drei Mädchen Arm in Arm singend über die Wiese gehend.
Man sollte einen Kunstjünger nie auf das Botanische
und auf naturhistorische Genauigkeit führen, sondern
ihn vielmehr nur dazu anleiten: wenn er etwas Schönes sieht,
sich zu fragen, warum es so schön auf ihn wirke. Man
findet immer eine Antwort. Entweder ist es schöne Licht-
und Schatten- oder Farbenverteilung im Raum, oder es sind
die Mafse, die die Gegenstände zu einander haben etc.
Wenn einem etwas Schönes in der Natur auffällt, so
liegt das nicht immer an der augenblicklichen subjektiven
Stimmung. Sondern, wenn man z. B. an der Via Flaminia
entlang geht und die Felsen beschaut, so wiederholt sich oft:
senkrechte Felsen, oben die Ebene und am Rand immergrüne
Eichenbüsche. Man wird wohl an einem grofsen Teil
gleichgiltiger vorübergehen. Plötzlich aber fällt einem eine
Stelle mit denselben Gegenständen ganz besonders auf, und
dann ist es gewifs eine der genannten Ursachen der Schön-
heit und Harmonie, die einen frappierte und die man gewifs
beim weitern Nachforschen herausfindet. Dieses Heraus-
finden der Ursachen des Malerischen in Natur und Kunst sei
Hauptaufgabe eines Kunstjüngers, und er versäume nicht, es
fortwährend zu üben. Und das hätten auch die Venezianer
als Hauptsache betrachtet und oft geübt. Schnitte man einen
Kopf aus ihren Bildern heraus, so würde gewifs nicht so
besonders viel Natur darin zu finden sein. Er ist aber male-
risch zusammen mit seiner Umgebung erdacht und daher im
Bilde schön.
So auch RafaeFs Bilder. Wenn daher neuere Maler von
Rafael stehlen, so verliert es meistens die Schönheit, denn es
fehlt der Zusammenhang wie der Zusammenklang mit dem
Uebrigen, mit dem es zusammen geschaffen.
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