kleine Daguerreotypie nichts von
dem Liebreiz unserer Mutter; sie
kann unmöglich damals, noch nicht
einundzwanzig Jahre alt, so aus-
gesehen haben, wenn sie auch
bereits zwei Kinder, meinen Bruder
und mich, geboren und genährt
hatte und dadurch wohl etwas
schmal geworden sein mag. Un-
sere Mutter war aufserordentlich
hübsch; sie soll dem Bilde „Jairi
Töchterlein" von Richter geglichen
haben. Als dies Bild einmal bei
einer jener Wanderausstellungen,
die in unserer Jugend Sitte waren,
nach Naumburg kam, führte man
uns beide, meinen Bruder und mich,
als ziemlich kleine Kinder in die
Ausstellung, um die Aehnlichkeit
zu konstatieren. Mein Bruder und
ich waren auf die Schönheit unserer
Mutter sehr stolz, so dafs das hier
dargestellte Daguerreotyp niemals
in unserem Kinderzimmer aufge-
hängt werden durfte, weil wir
leidenschaftlich protestierten: so
sähe unsere Mutter nicht aus. Sie war eine kerngesunde,
sehr kräftige Frau, ich kann mich kaum erinnern, sie krank
gesehen zu haben. Ihr Aussehen war bis zu ihrem Tode
ungemein jugendlich und sympatisch, und wenn sich die
Leute erstaunten, wie wunderbar sie sich konserviert habe,
so pflegte sie zu sagen: „Sich konservieren heifst: gesund
sein. Ich bin fast nie krank gewesen." Aber ihr Lebensende
widersprach diesem Ausspruch, denn kurz vor ihrem Tode er-
N1ETZSCHES GROSSMUTTEK, EEDMUTJ1E NIETZSCHE, GECOKENE KKAUSE &i/S
gab es sich, dafs trotz ihrem jugend-
lichblühenden Aussehen schon zwei
oder drei Jahre ein inneres Leiden
an ihr gezehrt hatte. Niemand von
ihrer Umgebung hatte es geahnt,
wenn auch wunderliche, reizbare
Stimmungen uns hätten aufmerk-
sam machen können. So kam ihr
plötzliches Ende am 20. April 1897
unsagbar überraschend. Aber selbst
der Tod vermochte nicht die Lieb-
lichkeit ihres Antlitzes zu zerstören.
Das Bild mit der festanschliefsen-
den Haube ist unsere Grofsmutter,
Frau Superintendent Erdmuthe
Nietzsche, geborene Krause. Sie
war geboren am 11. Dezemb. 1778
und in erster Ehe mit dem Hof-
advokat Krüger in Weimar ver-
heiratet, der ein Bruder von der
Frau des Dichters Kotzebue war.
Infolge dieser Heirat hat unsere
Grofsmutter ihre Jugend in einem
geistig sehr angeregten Kreise in
Weimar verbracht. Sie hatte ziem-
lich früh geheiratet; ihr einziger
kleiner Sohn aus dieser Ehe starb als zweijähriges Kind und
ihr Mann nach längerer Krankheit im Jahre 1806. Sie
heiratete im Jahre 1809 unseren Grofsvater, den Superinten-
denten Dr. theol. Friedrich August Ludwig Nietzsche, einen
Witwer mit sieben Kindern. Meine Grofsmutter gebar ihm
noch drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, unseren
Vater. Das vorliegende Bild unserer Grofsmutter galt auch als
nicht vorteilhaft, jedenfalls kannten wir Enkel nicht jenen etwas
NIETZSCHES URGROSSVATER , AECHIDIAKONUS CHE
RAUSE CaCffTOiKöB
strengen Ausdruck,
den das Bild zeigt.
Noch im Alter
strahlte ihr Antlitz,
ihrem ganzen Wesen
entsprechend, von
Geist und Liebens-
würdigkeit; sie starb
am 3. April 1856
und erreichte also
ein Alter von mehr
als siebenundsiebzig
Jahren. Unsere Ur-
grofsmutter hatte
sehr für das Leben
dieses zarten Kindes
gefürchtet, umso-
mehr als sie in den
Jahren vorher bereits
drei ganz kleine Kin-
der verloren hatte.
Eine weise Frau riet
ihr, dem Kindchen
den Namen Erd-
muthe zu geben,
NIETZSCHES URGROSSMUTTER, JOHANNA SOPHIE KRAUSE, GEBORENE STAUSS
C 234 3
dem Liebreiz unserer Mutter; sie
kann unmöglich damals, noch nicht
einundzwanzig Jahre alt, so aus-
gesehen haben, wenn sie auch
bereits zwei Kinder, meinen Bruder
und mich, geboren und genährt
hatte und dadurch wohl etwas
schmal geworden sein mag. Un-
sere Mutter war aufserordentlich
hübsch; sie soll dem Bilde „Jairi
Töchterlein" von Richter geglichen
haben. Als dies Bild einmal bei
einer jener Wanderausstellungen,
die in unserer Jugend Sitte waren,
nach Naumburg kam, führte man
uns beide, meinen Bruder und mich,
als ziemlich kleine Kinder in die
Ausstellung, um die Aehnlichkeit
zu konstatieren. Mein Bruder und
ich waren auf die Schönheit unserer
Mutter sehr stolz, so dafs das hier
dargestellte Daguerreotyp niemals
in unserem Kinderzimmer aufge-
hängt werden durfte, weil wir
leidenschaftlich protestierten: so
sähe unsere Mutter nicht aus. Sie war eine kerngesunde,
sehr kräftige Frau, ich kann mich kaum erinnern, sie krank
gesehen zu haben. Ihr Aussehen war bis zu ihrem Tode
ungemein jugendlich und sympatisch, und wenn sich die
Leute erstaunten, wie wunderbar sie sich konserviert habe,
so pflegte sie zu sagen: „Sich konservieren heifst: gesund
sein. Ich bin fast nie krank gewesen." Aber ihr Lebensende
widersprach diesem Ausspruch, denn kurz vor ihrem Tode er-
N1ETZSCHES GROSSMUTTEK, EEDMUTJ1E NIETZSCHE, GECOKENE KKAUSE &i/S
gab es sich, dafs trotz ihrem jugend-
lichblühenden Aussehen schon zwei
oder drei Jahre ein inneres Leiden
an ihr gezehrt hatte. Niemand von
ihrer Umgebung hatte es geahnt,
wenn auch wunderliche, reizbare
Stimmungen uns hätten aufmerk-
sam machen können. So kam ihr
plötzliches Ende am 20. April 1897
unsagbar überraschend. Aber selbst
der Tod vermochte nicht die Lieb-
lichkeit ihres Antlitzes zu zerstören.
Das Bild mit der festanschliefsen-
den Haube ist unsere Grofsmutter,
Frau Superintendent Erdmuthe
Nietzsche, geborene Krause. Sie
war geboren am 11. Dezemb. 1778
und in erster Ehe mit dem Hof-
advokat Krüger in Weimar ver-
heiratet, der ein Bruder von der
Frau des Dichters Kotzebue war.
Infolge dieser Heirat hat unsere
Grofsmutter ihre Jugend in einem
geistig sehr angeregten Kreise in
Weimar verbracht. Sie hatte ziem-
lich früh geheiratet; ihr einziger
kleiner Sohn aus dieser Ehe starb als zweijähriges Kind und
ihr Mann nach längerer Krankheit im Jahre 1806. Sie
heiratete im Jahre 1809 unseren Grofsvater, den Superinten-
denten Dr. theol. Friedrich August Ludwig Nietzsche, einen
Witwer mit sieben Kindern. Meine Grofsmutter gebar ihm
noch drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, unseren
Vater. Das vorliegende Bild unserer Grofsmutter galt auch als
nicht vorteilhaft, jedenfalls kannten wir Enkel nicht jenen etwas
NIETZSCHES URGROSSVATER , AECHIDIAKONUS CHE
RAUSE CaCffTOiKöB
strengen Ausdruck,
den das Bild zeigt.
Noch im Alter
strahlte ihr Antlitz,
ihrem ganzen Wesen
entsprechend, von
Geist und Liebens-
würdigkeit; sie starb
am 3. April 1856
und erreichte also
ein Alter von mehr
als siebenundsiebzig
Jahren. Unsere Ur-
grofsmutter hatte
sehr für das Leben
dieses zarten Kindes
gefürchtet, umso-
mehr als sie in den
Jahren vorher bereits
drei ganz kleine Kin-
der verloren hatte.
Eine weise Frau riet
ihr, dem Kindchen
den Namen Erd-
muthe zu geben,
NIETZSCHES URGROSSMUTTER, JOHANNA SOPHIE KRAUSE, GEBORENE STAUSS
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