Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
LUDWIG VON HOFMANN

ENTWICKLUNGSLEHRE UND AESTHET1K

j|IE Lehre der Entwicklung ist alt, wie die
Welt. In allen Kulturen, so auch in der
unseren, lassen sich ihre Spuren, hier An-
fänge, dort Ausbauten, verfolgen. "Wir
haben uns gewöhnt, sie im Namen Darwin
verkörpert zu sehen, weil er es war, der
als Erster ihr in bestimmten Grenzen die
wissenschaftliche Grundlage gegeben. Seit Darwins That
— die doch nur ein Anfang war — sehen wir die Welt im
Licht dieser Lehre. Ueberall sind die Kräfte am Werk, ihre
Grenzen zu erweitern; eine noch ungeahnte Vertiefung von
Welt zu Welt wartet ihrer. Eine moderne Aesthetik wird in
dem Mafse dem Wollen unserer Zeit Rechnung tragen, in dem
sie auf dem Boden dieser Lehre steht.

^

Die Seele, die zum Lichte will, schafft und leitet die Ent-
wicklung ihrer Erscheinung; die Entwicklung dessen, was
wir Natur nennen, in der engeren Bedeutung ihrer, unserer
Sinnenwelt zugänglichen Grenzen. Solange dieser Wille
sich seiner selbst in seiner Erscheinung noch nicht bewufst
geworden ist — wo wir diesen gefangenen Willen in seiner
Bethätigung beobachten, nennen wir ihn Instinkt — ist seine

Entwicklung eine äufserst langsame, die sich unseren Mafsen
nahezu entzieht. Seine Energie erreicht eine unbegrenzte Ent-
faltungs-Möglichkeit in dem Moment, in dem die Seele in
ihrer Erscheinung zum ersten Mal zum Bewufstsein ihrer
selbst erlebt wird. Von hier an vereinigt sich der Wille
der Erscheinungsform mit der Seele Willen zu dem befreiten
Willen, der die weitere Entwicklung des Individuums
in der Richtung seiner Seelenkraft bewufst bestimmt. Der
Kampf ums Dasein wird zum Kampf um das Licht sublimiert.
Wann immer dies geschieht, da ist ein Feier- und ein Jubeltag
des Lebens; wo immer dies geschieht, da läuten Osterglocken
Auferstehung. Die christliche Lehre hat dieser Weihestunde
den Namen „Gnade" gegeben. — Der Mensch, der die
Fundamentalwahrheit des bewufsten, befreiten Willens in sich
erlebt hat, der trägt von nun an in sich alle Vorbedingungen
zu der wunderbarsten Entfaltung der Kräfte, die mit seiner
Seele zum Lichte wollen. Erziehung, äufsere Verhältnisse
und ein Mehr oder Minder an innerer Freiheit mögen den
Gang dieser Entwicklung beeinflussen und von vornherein
nach der Richtung des Ganzen hinwerfen, oder Teilen zu-
lenken, deren Gesamtheit erst in späterer Entwicklung zu
einem Ganzen sich zusammenschliefsen kann; das Wesent-
liche bleibt die Thatsache, dafs der Boden bereitet ist, dieser
Seele die Sprengung ihres Gefängnisses, die unbegrenzte Ent-
faltung ihrer Kräfte zu gestatten; dafs die Bedingungen



G 236 3




 
Annotationen