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der diese tiefste Kraft am tiefsten gelebt hat, mehr gethan für
unsere Entwicklung, als alle Satiriker der Welt zusammen-
genommen. Seinen Namen sollten alle die im Herzen tragen,
die den in seiner bescheidensten Blüte geweihten Garten der
Kunst betreten.

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Das neunzehnte Jahrhundert war durchaus ein Jahrhun-
dert der That. Alte Reiche wurden zertrümmert, neue Reiche
entstanden, neue Wege bahnten sich den Naturkräften, und
wohin wir sehen, gewahren wir sprühendes Leben und
springende Kraft. Dieses Jahrhundert der That hat sich selber
glauben machen wollen, dafs es kein Recht zur Schönheit
habe. Das war, es hatte zu viel gelernt, es wufste zu viel
von der Schönheit vergangener Tage; so hielt es die Augen
nach rückwärts gewandt und wo immer es glaubte, die Ge-
legenheit erfordere die Entfaltung von Schönheit, da griff es
in den Schatz seines Wissens, anstatt in das eigene Herz;
und suchte die Erscheinungsformen verflossener Schönheit
den neuen Erfordernissen anzupassen. Da gab es dann Spiegel-
bilder vergangener Schönheiten; und oft waren es nur
Zerrbilder. Aber die Natur war stärker gewesen, als die

Menschen. Ueberall, wo die neuen Existenz-Bedingungen der
Natur, deren Kräften diese Thatmenschen gelauscht, ihre
diesen Kräften völlig adäquate Form gefunden, da war Schön-
heit entstanden und Kunst. Die diesem Willen der Weg
waren, waren sich dessen selbst nur dunkel bewufst; und all
die anderen hatten nicht den Glauben an sich und ihre Zeit,
der ihnen die Augen geöffnet hätte. Aber damit hat sich
dieses Jahrhundert der That und dennoch der ästhetischen
Romantik um einen guten Teil seines Lebenswertes betrogen.
Nur wer die Gegenwart wirklich lebt, wer nicht mit blinden
Augen in die Zukunft schaut für bessere Zeiten und nicht in
die Vergangenheit, um tote Werte zu neuem Scheinleben
erstehen zu lassen, wer ein Weg ist den tausend Schönheiten
des Tages und diese Schönheiten in Anspruch nimmt für sich
als den Tribut, der ihm geschuldet, weil er ihn sich verdient,
nur der ist Meister dieses Lebens geworden, nur ihm hat das
Leben seine ganze Schönheit offenbart und hat ihn die volle
Kraft fühlen und erleben lassen, mit der täglich neu die
Seele zum Lichte ringt. Das war es, was der greise Seher
aus seiner Einsicht in das scheidende Jahrhundert mit seinem
Mahnruf sagen wollte: „Wenn wir Toten erwachen."

Es war die tiefste Wahrheit, die das Jahrhundert aus
seiner Vertiefung der Entwicklungslehre schöpfen konnte.

E. Frhr. v. Bodenhausen



LUDWIG VON HOFMANN

G 240 3
 
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