E. M. GEYGER, STIEK
DIE BILDENDEN KUENSTE
BEIM EINTRITT IN DAS NEUE JAHRHUNDERT
AN der Wende eines Jahrhunderts wird man zu Rückblicken
_/~\_ in die Vergangenheit und Ausblicken in die Zukunft
besonders geneigt sein; für die bildenden Künste sind solche
Rückblicke besonders berechtigt und fruchtbar, da die grofsen
Abschnitte in der Entwicklung der Kunst schon seit mehr
als einem halben Jahrtausend jedesmal ziemlich genau mit
einem Jahrhundert zusammenfallen. In Italien benennt man
daher diese verschiedenen Kunstperioden nach dem Jahr-
hundert; man spricht von der Kunst des Trecento, des
Quattrocento, des Cinquecento u. s. f. Auch das eben ab-
gelaufene oder jetzt ablaufende Jahrhundert (in der Kunst
hat man es regelmäfsig mit der neuen Jahrhundertszahl be-
gonnen) stellt für die bildenden Künste wieder eine in sich
abgeschlossene Epoche dar; eine Epoche von sehr eigen-
tümlichem Charakter, denn im Gegensatz zu allen voraus-
gegangenen Perioden zeigt sie keinen eigenen Stil, sondern
steht unter dem Zeichen der Stillosigkeit und der Nachahmung
der Stile der vorausgehenden Zeiten. Von der Nachahmung
der Antike ausgehend hat sie nach etwa einem Menschen-
alter sich zur Gotik bekehrt, ist wieder um dreifsig Jahre
später zur Renaissance übergegangen und hat sich in den
letzten Jahrzehnten zum Barock und Rokoko, schliefslich zum
Louis XVI.-Stil und zur Nachahmung der Nachahmung:
zum Empire bekannt, wobei auch der Kunst des Orients,
namentlich der japanischen Kunst ein nicht unbedeutender
Tribut gezollt worden ist.
So stellt sich denn in dieser Nachahmung der älteren
Kunst von ihrem Anfang bis zum Ende und schliefslich zurück
zu der Nachahmung der Antike im Empire in der That eine
abgeschlossene Entwicklung dar. Das neue Jahrhundert kann
diese Tendenz nicht gut weiter verfolgen, es mufs seine
eigene Bahn gehen. Dies Bestreben zeigt sich in deutlichster
Weise in der Kunstströmung der neuesten Zeit, die in ganz
bewufster, energischer Weise auf die Befreiung vom Einflufs
der älteren Kunstepochen und auf die Ausbildung eines
eigenen, ganz selbständigen Stiles ausgeht. Der Keim zu der
neuen Kunst liegt schon in der alten und drängt, wie wir
dies auch in früheren Jahrhunderten regelmäfsig beobachten,
schon in den letzten Jahren des alten Jahrhunderts mächtig
zur Entfaltung. Auf diese Bestrebungen der letzten Jahre,
die in den verschiedenen Künsten wie im Kunsthandwerk
einen sehr ausgeprägten gemeinsamen Zug haben, etwas
C 245 D
DIE BILDENDEN KUENSTE
BEIM EINTRITT IN DAS NEUE JAHRHUNDERT
AN der Wende eines Jahrhunderts wird man zu Rückblicken
_/~\_ in die Vergangenheit und Ausblicken in die Zukunft
besonders geneigt sein; für die bildenden Künste sind solche
Rückblicke besonders berechtigt und fruchtbar, da die grofsen
Abschnitte in der Entwicklung der Kunst schon seit mehr
als einem halben Jahrtausend jedesmal ziemlich genau mit
einem Jahrhundert zusammenfallen. In Italien benennt man
daher diese verschiedenen Kunstperioden nach dem Jahr-
hundert; man spricht von der Kunst des Trecento, des
Quattrocento, des Cinquecento u. s. f. Auch das eben ab-
gelaufene oder jetzt ablaufende Jahrhundert (in der Kunst
hat man es regelmäfsig mit der neuen Jahrhundertszahl be-
gonnen) stellt für die bildenden Künste wieder eine in sich
abgeschlossene Epoche dar; eine Epoche von sehr eigen-
tümlichem Charakter, denn im Gegensatz zu allen voraus-
gegangenen Perioden zeigt sie keinen eigenen Stil, sondern
steht unter dem Zeichen der Stillosigkeit und der Nachahmung
der Stile der vorausgehenden Zeiten. Von der Nachahmung
der Antike ausgehend hat sie nach etwa einem Menschen-
alter sich zur Gotik bekehrt, ist wieder um dreifsig Jahre
später zur Renaissance übergegangen und hat sich in den
letzten Jahrzehnten zum Barock und Rokoko, schliefslich zum
Louis XVI.-Stil und zur Nachahmung der Nachahmung:
zum Empire bekannt, wobei auch der Kunst des Orients,
namentlich der japanischen Kunst ein nicht unbedeutender
Tribut gezollt worden ist.
So stellt sich denn in dieser Nachahmung der älteren
Kunst von ihrem Anfang bis zum Ende und schliefslich zurück
zu der Nachahmung der Antike im Empire in der That eine
abgeschlossene Entwicklung dar. Das neue Jahrhundert kann
diese Tendenz nicht gut weiter verfolgen, es mufs seine
eigene Bahn gehen. Dies Bestreben zeigt sich in deutlichster
Weise in der Kunstströmung der neuesten Zeit, die in ganz
bewufster, energischer Weise auf die Befreiung vom Einflufs
der älteren Kunstepochen und auf die Ausbildung eines
eigenen, ganz selbständigen Stiles ausgeht. Der Keim zu der
neuen Kunst liegt schon in der alten und drängt, wie wir
dies auch in früheren Jahrhunderten regelmäfsig beobachten,
schon in den letzten Jahren des alten Jahrhunderts mächtig
zur Entfaltung. Auf diese Bestrebungen der letzten Jahre,
die in den verschiedenen Künsten wie im Kunsthandwerk
einen sehr ausgeprägten gemeinsamen Zug haben, etwas
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