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ALLGEMEINE BEMERK
THESE DER KUNST VON

UNGEN ZU EINER SYN-
HENRY VAN DE VELDE.

ist unser Geschick, in einer Zeit zu leben,
in der die Kunst zusammengebrochen ist wie ein
gestürzter Baumriese, dessen Geäste und Geziveige
nun zerknickt und zerrissen umherliegen. Man
vermutet zunächst wohl, daß ihn irgend ein ge-
waltiger Gegner, ein Blitzstrahl, mit der
Kraft seiner Vernichtung zerschmettert
habe. In Wirklichkeit aber waren es Würmer, die ohne Ruhm
und ohne Grösse ihn langsam zu Boden streckten. Sie wirkten
ebenso sicher, ivie Fäulnisbrand und zeugten sich aus den
lichtlosen Grundtiefen der Menschenseele heraus.

Eine solche Erscheinung zeigt sich jedes Mal, wenn geistige
Ebbe eintritt und den Boden Mos legt, auf dem sich mit der
Zeit immer mehr geheimer Unrat angesammelt hat, sei es
schneller und haufenweise, wie von Karren ins Wasser ge-
kippter Schmutz, sei es langsam und allmählich, wie der Staub,
den auch unsere höchsten Empfindungen abscheiden.

Der Lauf der Dinge vollzieht sich so in regelmäfsigem

Wechsel: die Kunst sinkt zum Niedergang und zerbröckelt
und beginnt wieder aufs Neue, wie ein Kind, reift Wachs-
tum und Vollendung entgegen und entwickelt sich vom Leben
zum Tode, ohne dafs etwas von ihr sich verlöre. Sie überträgt
sich und formt sich um. Die Ursache alles Verfalls und aller
Blüte bleibt immer das geistige und sittliche Moment der
betreffenden Periode.

Unser Geschick nun ist es, auf einer solchen Grenzscheide
zu stehen und in einer Zeit zu leben, in der die Kunst einem
gestürzten Baumriesen gleich am Boden liegt, in der wir gleich-
zeitig jedoch auf Felder mit neu aufgrünenden Saaten sehen.
Gerade ein solcher Zeitpunkt aber ist wertvoll und jedes
Symptom verdient unsere Beachtung — ebensowohl die
Zuckungen der sterbenden als auch das Schreien der neu zur
Welt kommenden. Eilen wir also, diese Momente festzuhalten,
bevor es zu spät ist, bevor uns der Strom zu weit fortträgt
oder bevor uns der blendende Glanz des Werdenwollenden die
Trostlosigkeit des Gewesenen vergessen liefs.

V&

Es ist notwendig, gleich zu Anfang festzustellen, dafs
alle Benennungen, wie: niedere Kunst, Kunst zweiten
Ranges, Kunstindustrie, angewandte Kunst, Kunsthand-
werk nur in soweit Geltung haben können, als sie sich
auf Dinge beziehen, die man übereingekommen ist, so zu
bezeichnen. Es kann aber keineswegs zugegeben werden,
dafs sie zutreffend sind oder auch nur, dafs wirklich
existiert, was sie bezeichnen.

Wir können in der Kunst keine Scheidung zulassen,
die darauf ausgeht, einseitig e in er ihrer vielen Erscheinungs-
formen und Ausdrucksmöglichkeiten einen höheren Rang
vor den übrigen zuzuweisen; eine Scheidung der bilden-
den Kunst in schöne Kunst und in eine zweitklassige
niederere, industrielle Kunst aber verfolgt keinen anderen
Zweck. Sie ist durchaus willkürlich und wurde völlig
unberechtigt und parteiisch von den schönen Künsten auf-

gestellt, die vor ihrem Untergang diese Ausflucht brauchten,
ihr Dasein etwas zu verlängern. Alle Einrichtungen und
Ideen übrigens gelangen in eine derartige Phase. Es ist
eine unbewufste Art, sich zu verteidigen und das Ende zu
negieren, als könne man damit den Elementen Schach
bieten, die dieses Ende doch notwendig herbeiführen müssen.

Es ist im Grund aber nichts anderes: als eine völlig
mifsbräuchliche Rangaufstellung, ein brutales Vordrängen
auf den ersten Platz und eine plumpe Zurücksetzung gerade
der lebensvollsten Gebiete: der niederen Künste — und
just in dem Augenblick, da sich ein neues Ausdrucksmittel
fand — in der Industrie. Die schönen Künste sahen sich
dadurch bedroht und so wurde diese neue Form für minder-
wertig und für zweiten Ranges erklärt.

Es erinnert dies an Grauköpfe, die ein Kind ohrfeigen
und lebenslängliche Unterwürfigkeit von ihm verlangen,

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