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Panofsky, Erwin <Prof. Dr.>
Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst — Leipzig, Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.29796#0128
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102

Hercules Prodicius

ganz nackt — wird gekennzeichnet durch Becher, Fruchtschale, Musik-
instrumente und Ballspiel, die „Virtus“ durch allerlei Werkzeuge der
Handwerke und Wissenschaften; und wenn wir die ,,Tugend“ der Narren-
schiffs-Illustrationen mit den Melancholikerinnen der Kalender und Kom-
plexbüchlein vergleichen durften, so können wir von der des Murer be-
haupten, daß sie nichts anderes sei, als eine Umbildung der „Melenco-
lia I“, deren Kompositionsschema ja für die ,,Virtutes“- und „Artes“-
Darstellungen des vorgeschrittenen 16. Jahrhunderts auch sonst sehr
häufig maßgebend war. — Der Titel des Blattes aber lautet ganz „mittel-
alterlich“ :

„Wäg zum Leben oder Todt,

Via vitae vel mortis“

(jener beschritten von einem mühselig emporklimmenden Mann, den ein
Engel in himmlischem Glanze empfängt, dieser von einem prächtig stol-
zierenden Liebespaar, das von Freund Hein und höllischen Flammen er-
wartet wird); und auch die vornehm und wesentlich hübscher gewordene
„Virtus“, die mit der Linken auf die geöffnete „Biblia“ deutet, hält im-
mer noch den Spinnrocken im rechten Arm1): das Ganze bleibt, trotz
aller Modernismen und trotz der kavaliermäßigen Stilisierung des Her-
cules — der Manierismus Murers erweist sich in dieser Hinsicht als weni-
ger „antikisch“ denn der Humanismus Peter Vischers—, von einer aus-
gesprochen christlich-religiösen Auffassung bestimmt.2)

*

Beides — die Anpassungsbereitschaft der Form, die sich dem
jeweils „Modernen“ zu fügen gewillt ist, und die Beharrungstendenz
des Gehaltes, der stets durch eine frömmere oder jedenfalls weniger
heroische als moralistische Auffassung bestimmt bleibt — ist mit der einen
großen Ausnahme Dürers3) für die spezifisch germanischen Verbildlichun-

1) Rein gegenständlich betrachtet, bedeutet also die Murersche Radierung im we-
sentlichen eine Zusammenziehung der drei gesonderten Narrenschiffs-Holzschnitte (Con-
certatio, Einzelbild der „Virtus“ und Einzelbild der „Voluptas“) zu einer Gesamtdar-
stellung. Auch die von Rordorff dazugedichtete Unterschrift ist nichts als eine freie
Übersetzung des Brantschen „Argumentum“, nur daß das „somno cum forte
iaceret“ naturgemäß verschwinden und durch ein „als er sich an den scheidweg stelt“,
ersetzt werden mußte:

„Hercules, der verrümbte Held,

Als er sich an den scheidweg stelt,

Seins gfallens solt erwehet han,

Der Tugendt ald der Laster ban:

Als er betracht ihr beyder end,

Hat sich zum Weg der Tugendt gwendt.“

2) Über die Herkunft des Engel- und Teufelsmotivs vgl. unten S. 156.

3) Vgl. unten S. 166 ff.
 
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