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Panofsky, Erwin <Prof. Dr.>
Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst — Leipzig, Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.29796#0196
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170

Hercules Prodicius

frei machen, d. h. die Möglichkeit ins Auge fassen, die Gestalt des Her-
cules als solche in einen allegorischen Zusammenhang hineingestellt
zu denken, ordnet sich der Kupferstich von selbst demjenigen Vor-
stellungskreise ein, in dem sich, wie wir wissen, das Denken des deutschen
Frühhumanismus mit so besonderer Vorliebe bewegt hat* 1): dem Vor-
stellungskreise der Prodikosfabel. Wölfflin ist ganz auf dem rich-
tigen Wege gewesen, wenn er den Kupferstich B. 73 als einen „Kampf
der Keuschheit gegen die Unkeuschheit“ interpretierte2); und wenn er
diesen Weg nicht völlig zu Ende gegangen ist — indem er es als aussichts-
los empfand, die Gestalt des Hercules in seine an und für sich ganz rich-
tige Deutung miteinzubeziehen, und daher an der alten Bezeichnung
„Die Eifersucht“ festhält —, so liegt das lediglich daran, daß eben auch
er sich an jene trügerische Alternative „Entweder Hercules-Tat ohne alle-
gorischen Hintersinn — Oder allegorische Szene ohne Beteiligung des Her-
cules“ gebunden fühlte. Nachdem wir aber wissen, daß gerade Hercules
es ist, vor dem der Kampf zwischen,,Tugend“ und „Laster“ sich abspielt,
und daß er sich dabei durchaus nicht immer auf die Rolle des indifferenten
Zuschauers und Richters beschränkte, vielmehr — und gerade bei den
deutschen Humanisten — auch als entschiedener Parteigänger und
Waffengefährte der „Virtus“ auftreten konnte3), bereitet die Auflösung
des Rätsels keine Schwierigkeiten mehr. Die Angreif erin ist die „Vir-
tus“, die von der Tugendburg (links oben) herabgeeilt ist, um ihre Geg-
nerin mit Nachdruck zu bekämpfen; die nackte Frau ist dement-
sprechend die „Voluptas“, die, in den Armen eines Satyrs4) ruhend,
recht in flagranti von der „Tugend“ überrascht wird (zu ihr gehört natür-
lich, wie auch sonst, der entsetzt davonlaufende Putto); der Stehende
endlich ist Hercules, der — hier noch ohne Löwenfell und mit jüng-
lingshaft unentwickeltem Bartwuchs — auch seinerseits voll edler Ent-
rüstung gegen das unkeusche Pärchen „Stellung nimmt“. Man kann
ihn gleichsam einen Paladin der „Tugend“ nennen, der sich zwar
angesichts ihres energischen und erfolgversprechenden Vorgehens mit

bestem Einvernehmen befindet und über die Störung durchaus nicht erbaut ist (vgl. da-
gegen den bei Lenz S. 91 abgebildeten Aldegreverstich B. 92); und vollends unmöglich
ist die Vorstellung, daß Hercules sich bei der Befreiungsaktion mit einer wesentlich ab-
wartenden Haltung begnügt und den eigentlichen Angriff „einer Lapithin“ überlassen hätte.

1) Vgl. oben S. 84 ff.

2) Wölfflin a. a. O.: „Ich bin überzeugt, daß der Sinn des Blattes kein anderer ist
als der Kampf der Keuschheit gegen die Unkeuschheit. Das nackte Weib zwischen den
Beinen des Satyrs bezeichnet deutlich genug das eine Thema, und die bekleidete Frau, die
jedenfalls als Diana gedeutet werden muß, gibt den klassischen Gegensatz."

3) Vgl. oben S. 85.

4) Zum Satyr als Lasterpersonifikation vgl. u. a. die S. i87ff. abgedruckte Allegorie
des Filarete sowie (für unseren Zusammenhang besonders aufschlußreich) die Cortona-
Zeichnung Abb. 73 (Satyr und Nymphe rechts hinten auf der ,,Voluptas"-Seite).
 
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