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Panofsky, Erwin <Prof. Dr.>
Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst — Leipzig, Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.29796#0205
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Exkurs I. Zur Deutung von Tizians ,,Himmlischer und Irdischer Liebe“ 179

genden Lebensideals, die sich durch ihre edlere Schwester, man möchte
sagen: durch „ihr besseres Ich“, zu einer Läuterung und Selbstbesinnung
auf gerufen sieht.

Damit sind wir von selbst in die Gedankenkreise einer Philosophie
hineingeführt worden, für die es geradezu kennzeichnend ist, daß sie den
Glauben an die unbedingte Suprematie der „wahrhaft wahren“
Ideenwelt über die gleichnishaft-trügerische Welt des Sinnlich-Materi-
ellen mit dem Gedanken einer Stufenfolge verbindet, die einen Auf-
stieg von dieser zu jener ermöglicht: in die Gedankenkreise jenes Neu-
platonismus, für den ja die Liebe zu einem zugleich ästhetischen, mora-
lischen und erkenntnistheoretischen Prinzip geworden war.

Daß dieser Begriff auch bei der Deutung des Tizianischen Bildes
nicht außer Acht gelassen werden darf, beweist die Figur des Cupido.
Man kann schwanken, ob er, wie in so vielen Darstellungen der eigent-
lichen Herculesfabel, als bloßer Begleiter der „Felicitä breve“ aufzu-
fassen sei, mit der er formal weit enger verbunden ist, — oder ob ihm
die Bedeutung eines übergeordneten Gesamtsymbols zukomme, das inner-
halb der Tizianischen Komposition eine ähnliche Rolle spielen würde,
wie das Kreuz in der Saulmont-Medaille. In beiden Fällen aber weist
er unzweideutig darauf hin, daß eben die Liebe das Thema des Streit-
gesprächs bildet; und falls wir ihn — wie es mit Rücksicht auf die for-
male Beziehung zu der Medaille das Wahrscheinlichere ist — im Sinn
der zweiten, umfassenderen Möglichkeit interpretieren, würde er sogar
auf eine echt neuplatonische Lösung des Konfliktes vorandeuten: wie das
Kreuz des Medaillenreverses darauf hinweist, daß auch die sündige „Na-
tura“ gerettet werden kann, wenn sie das Opfer des Erlösers demutsvoll
annimmt und sich der Gnade anheimgibt („Mihi absit gloriari nisi in cruce
domini nostri JHV. XPI.“), so würde der im kristallenen Wasser plät-
schernde Amor des Tizianbildes bedeuten, daß auch das sensuelle Prinzip
einer Steigerung und Reinigung zum Spirituellen fähig ist. Dann wäre
das Gemälde eine genaue Bildparallele zu jenen platonisierenden
„Dialoghi diAmore“, die—stets mehr oder weniger an die Plotin-und
Plato-Kommentare Marsiglio Ficinos anknüpfend und im Laufe des
16. Jahrhunderts eine ganze Literaturgattung bildend—sämtlich um das
Problem des Gegensatzes zwischen „Amore sensuale“ und „Amore divino“
kreisen: zum dritten Dialog der schon im Jahr 1505 gedruckten „Aso-
lanen“ Pietro Bembos (in dem wir am liebsten den Inspirator des
Tizianbildes erblicken möchten), zu den „Dialoghi di Amore“ des Leone
Ebreo1) und vor allem zu den berühmten Schlußkapiteln im 4. Buch des

1) Verfaßt 1502, gedruckt erst 1535.

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