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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0058
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54 Hugo Münsterberg

wir dagegen von abnormen psychischen Erscheinungen sprechen, so
muß die Abgrenzung gegenüber der Norm durchaus von psychischen
Gesichtspunkten beherrscht sein, und da ergibt sich denn leicht die
Schwierigkeit, daß die Norm bald einen bloßen Durchschnitt, bald
ein Idealschema darstellen soll. Ist die Norm die durchschnittliche
geistige Verfassung, so muß natürlich die ungewöhnliche Begabung
und das Genie genau so zum Abnormen gerechnet werden, wie die
Krankheit, und wenn es wahr ist, daß in den letzten Jahrzehnten die
Zahl der Geisteskranken im Verhältnis zu den Gesunden stark ge-
wachsen ist, so müßte dann die psychische Norm als Durchschnitt
berechnet tief herabgesunken sein und somit manches noch der Norm
nahe liegen, was in früherer Zeit von ihr weit entfernt lag. Wird
dagegen die Norm als das Idealschema des harmonischen Geistes-
lebens aufgefaßt, so nähert sie sich natürlich dadurch dem Begriff
der Gesundheit und das Abnorme wird dann so wie das Pathologische
teleologisch bestimmt, also mit Rücksicht auf die zu bestimmenden
Aufgaben. Trotzdem fallen die beiden Begriffe durchaus nicht zu-
sammen, denn die Gesundheit, die der Krankheit gegenübersteht,
bezieht sich durchaus auf den ganzen organischen Menschen, während
das normale seelische Leben ausschließlich mit Rücksicht auf die
Harmonie der psychischen Kräfte gedacht wird. Diese Harmonie
kann nicht unerheblich gestört sein, ohne daß die Gesundheit ge-
schädigt ist. Vom teleologisch-psychologischen Standpunkt sollte
bereits der Traum als abnorme Abweichung zu gelten haben, während
er natürlich kein pathologisches Symptom ist, im Gegenteil einigen
Psychopathologen ja gerade als wichtiges Hilfsmittel des normalen
organischen Funktionierens gilt. Andererseits wird manches patho-
logische Symptom, wie etwa die Hoffnungsfreudigkeit des Phthisikers,
sich in das Krankheitsbild einordnen, ohne dem Psychologen eine
Abnormität zu zeigen.

Die Abweichungen von der psychischen Norm werden sich daher
auch in den verschiedensten Richtungen bewegen können und die
besondere Beziehung auf die Krankheit als solche wird nur von
sekundärem Interesse sein. Für den Psychologen wird die Grenze
des Normalen dann ebenso da überschritten werden, wo vielleicht
die normale Suggestionswirkung in den hypnotischen Einfluß über-
geht, der ja doch sicherlich keine Krankheit darstellt, oder wo ein
 
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