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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0060
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56 Hugo Müneterberg

sehen Physik. Dagegen läßt sich ja nun auch die Physik in einem
ganz anderen Sinne verwenden: der Physiologe benutzt die Physik,
um die physiologischen Prozesse des Körpers zu erklären. Aber es
ist doch zweifellos, daß wir von Physiologie nicht in dem Sinne als
angewandter Physik sprechen können, wie wir Brückenkunde als an-
gewandte Physik betrachten. Wollen wir unter einer angewandten
Wissenschaft alle diejenigen Disziplinen verstehen, bei denen die
Kenntnisse einer anderen Wissenschaft zu Erklärungszwecken heran-
gezogen werden, so hat der Begriff der Anwendung seine eigentliche
Fruchtbarkeit verloren. Zum mindesten aber müßten wir dann mit
ganz verschiedenen Sorten angewandter Wissenschaft rechnen. Be-
schränken wir die Idee der angewandten Wissenschaft in der allein
wertvollen Weise auf jene technische Verwendung im Dienst prak-
tischer Aufgaben, so gibt es in der Pathopsychologie keinerlei an-
gewandte Psychologie, genau so wenig, wie die Psychologie der
Kulturerscheinungen, der Mythen, der Sitten, der Sprachen als an-
gewandte Psychologie bezeichnet werden sollte.

Nun steht aber wie gesagt neben dieser psychologischen Durch-
arbeitung der abnormen psychischen Erscheinungen noch eine andere
Pathopsychologie, welche durch den methodologischen Gesichtspunkt
bestimmt ist. Es ist die gesamte Psychologie, so weit wie sie durch
das Studium abnormer und vornehmlich pathologischer Erscheinungen
gefordert wird. Hierhin gehören alle jene wichtigen Untersuchungen,
in denen etwa die klinische Beobachtung Einblick in den psychischen
Mechanismus gewährt. Gerade weil der heutigen Auffassung zufolge
auch das Krankhafte nur eine Veränderung, im letzten Grunde eine
Steigerung oder Hemmung der normalen psychischen Prozesse ist,
kann die Abweichung so lehrreich für das Verständnis des Normalen
werden. So wie in der Karikatur durch die Störung der Proportionen
der Züge, der einzelne Gesichtszug in seiner Bedeutung viel lebhafter
hervortritt, so kann in dem gestörten Gleichgewicht der seelischen
Züge das Zuviel und das Zuwenig Aufschluß über die psychischen
Gesetze geben oder wenigstens neue Anregung für neue Fragestellung
und neue Erforschung des normalen Geschehens. Hier liegt für die
Psychologie sicherlich der größte Gewinn vor, aber gerade hier bleibt
noch am meisten zu tun übrig.

Von diesen beiden Unterabteilungen der Psychologie müssen nun
 
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