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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, 2.1913 - 1914

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Zweites Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2778#0142
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138 Wilhelm Specht

dem anderen, daß die Empfindung die Leitung eines Zustandes des
Nerven zum Bewußtsein sei, nicht aber die Leitung eines Korpers
oder einer Qualität eines Körpers. Und damit sind wir an dem
fundamentalen Satz angelangt, auf dem alle anderen aufgebaut sind,
und von diesem Satz sagen wir, daß er nicht nur dogmatisch, sondern
falsch ist.

Worauf kann sich jener Satz berufen? Auch wenn die völlige
Unhaltbarkeit des Gesetzes der spezifischen Energie, welches die
Empfindungsqualitäten auf eine qualitas occulta der Sinnes- und
Nervenelemente zurückführt, eingesehen wird1, so kann er sich be-
rufen auf die von der induktiven Forschung nachgewiesenen Ab-
hängigkeitsbeziehungen, die zwischen dem Gehalt an äußerer Wahr-
nehmung und den Reizungsvorgängen in den Sinnesnerven und dem
Gehirn bestehen. Er kann sich, so können wir auch kurz sagen,
auf die Tatsache der physiologischen Reizung berufen. Aber anstatt
daraus zu folgern, daß die physiologische Reizung Bedingung der
Wahrnehmung sei, wird behauptet, daß das, was uns in der Wahr-
nehmung gegeben sei, nichts anderes sei als eine Wirkung der
physiologischen Reizung, als empfundene Zustände unserer Nerven.
Ja um der physiologischen Reizung willen wird behauptet, daß uns
in der Wahrnehmung nichts anderes gegeben sein könne
als empfundene Zustände unserer Nerven. Wir hörten ja, wenn wir
eine Tafel berühren, so sei uns zunächst nichts anderes gegeben und
könne uns nichts anderes gegeben sein als Empfindungen in dem-
jenigen Teil der Haut, der die Tafel berührt. Nicht die Tafel
werde empfunden, sondern ein Teil der Haut.

Und hier zeigt sich nun deutlich nicht nur die Unhaltbarkeit
sondern auch der Dogmatismus der physiologischen Theorie. Eine
Theorie der Wahrnehmung soll auf solche Tatsachen bedacht sein,
daß die Tafel nur empfunden wird, wenn die Tastnerven erregt
werden, und sie muß von solchen Tatsachen Rechenschaft geben.
Aber dogmatisch verfährt sie, wenn sie nicht einfach die schlichte
Frage stellt, was in der Wahrnehmung gegeben sei, sondern wenn

1 Siehe dazu namentlich Lotze, Metaphysik, 2. Aufl., S. 50 ff. — Schwarz,
Das "Wahrnehmungsproblem, 1892, S. 313 ff. — Bergson, Materie und Gedächt-
nis, Deutsche Ausgabe, 1908, S. 39 ff. — Wündt, Phys. Psych., 5. Aufl. I S. 440 ff,
sowie Grundriß d. Psychologie, 8. Aufl., S. 52 ff.
 
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