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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, 2.1913 - 1914

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Drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2778#0346
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342 Ludwig Klages

Wesen der Begabung, soweit sie Gestaltungskraft ist, besteht in der
Fähigkeit, irgend ein Tun bis an den Rand mit Ausdruck zu
füllen, und einzig von dieser soll in der Folge in bezug auf die
Handschrift die Rede sein. Doch wir kommen jetzt rascher zum
Ziel, wenn wir den Gedanken in umgekehrter Richtung, nämlich von
oben nach unten verfolgen.

Neben den Begabungen, die sich wie Musik, Plastik, Architektur
auf die Formung eines sinnlichen Materials beziehen, scheint es rein
innerliche zu geben, wie z. B. die Denkbegabung. Wir vergessen
aber nicht, daß man niemals ohne Namen denke, sowenig darum
Sprechen und Denken identisch sind, und daß die Entwicklung des
Geistes Punkt für Punkt der Entwicklung der Sprache folgte. Wir
halten es für erweislich, wenn auch nicht hier der Beweis erbracht
werden kann, daß der Mensch sich zu urteilender Besinnung erst
auf Grund schon vorhandener Sprachlaute erhob, nicht umgekehrt
solche hervorbrachte auf Grund von Urteilsimpulsen. Wie es aber
damit auch bestellt gewesen, jedenfalls ist das laute Denken dem
leisen vorhergegangen. Bis in die früheste Zeit hinein läßt sich
ein Doppelgebrauch des Wortes verfolgen: der expressive und der
mitteilende. Jener hat sich bei allen Völkern zur Poesie entwickelt,
dieser zur Sprache des Marktes und der Wissenschaft, und daran
wenigstens kann kein Zweifel sein, daß auf primitiver Stufe der
dichterisch ausdrückende Wortgebrauch vor dem sachlich nur mit-
teilenden in einem uns kaum mehr faßlichen Grade den Vorrang
besessen. Dafür spricht nicht nur das üppige Schlingkraut der uni-
versal verbreiteten Volkspoesie, sondern weit mehr noch der Um-
stand, daß ein dichterisch schmückendes Element auch den Mitteil-
ungen des Naturmenschen beim Handeln, Beraten, Gerichthalten ein
von den unsrigen so ganz verschiedenes Gepräge gibt und sie fort-
während, freilich zur Lust des Sprechers, der Gefahr aussetzt, sich
in Gleichnisse und Fabeln aufzulösen. Von den Buschmännern hören
wir, daß sie sich im Dunkeln nur schwer unterhalten können, weil
von ihrem Sprechen noch gar nicht die Mimik zu trennen sei. Be-
kannt ist der Reichtum grammatischer Formen und ihre »unpraktische«
Klangfülle in den primitiven und selbst noch in den antiken Sprachen,
wohingegen von den Neueren es wieder das nüchterne Volk der Eng-
länder in der Abschleifung und Reduktion am weitesten gebracht.
 
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