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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, 2.1913 - 1914

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Drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2778#0347
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Die Ausdrucksbeweguiig und ihre diagnostische Verwertung. 343

Im selben Maße aber, wie in Sprache und Sprechen die Freude am
Ausdruck den Vorrang hat, erscheint auch das Denken von ihr be-
stimmt, und bleibt, verglichen mit unserem streng gegenständlichen,
sogar im Altertum ein vorwaltend darstellerisches. Jakob Büekhardt,
der hervorragende Kenner der Antike, hat zugleich Größe wie Grenze
der griechischen Geistigkeit mit dem Satz umschrieben, daß ohne
Gespräch die Entwicklung des Geistes bei ihnen nicht wäre denk-
bar gewesen und daß Agora und Symposion als die beiden großen
Stätten der Konversation auch ihre Philosophie zur Blüte getrieben *.
Wieviel artistische Ausdrucksfreude an den Überraschungen der
Dialektik steckt doch selbst in den Dialogen eines Plato, mit Bezug
auf den Kant von der antiken Gedankenführung das sicher unge-
rechte, aber von ihm aus gar wohl verständliche Wort geprägt, sie
sei die Kunst »wortreich zu schwatzen«! Kurz, auch der mitteilende
Wortgebrauch hat ursprünglich noch expressiven Charakter und Hand
in Hand damit bleibt das Denken auf dichterische Figürlichkeit und
rhetorische Wirkungen angelegt und die Begabung dazu ist wesent-
lich eine Begabung zu lebendiger Bede.

Von den beiden Seiten des Sprachgebrauchs ist es nun aber die
mitteilende, die sich, zuerst wohl im Dienste von Botschaften und
Vereinbarungen, den stummen Bewahrer des Wortes, die Schrift, er-
schuf2. Erst mit der Gewöhnung, lesend zu hören, ohne des Ohrs
zu bedürfen, und mit der Fähigkeit, tonlos zu reden durch Schreib-
ausübung, befreite der Mensch in der Sprache die schlechtweg be-
zeichnende Funktion von der dichterisch expressiven und entwickelte
er an der Hand des verinnerlichten Sprechens, das nurmehr
von schwachen Flüsterbewegungen begleitet ist, den mit sich allein
unterhaltungsfähigen »Denker«. Während wir auf primitiver Stufe
den Menschen uns zwar zeitweilig stumm und insichversunken, nicht
aber nachdenklich vorstellen dürfen, weil jegliches Denken in ihm
nach Ausdruck heischend sich entweder in Gesang entlüde oder in
Äußerungen zu seinesgleichen, so herrscht auf zivilisierter der schein-

1 Griechische Kulturgeschichte, Bd. I, S. 77.

2 Zu unterscheiden ist die Entstehung der Formen von der des Gebrauchs
der Schrift, und nur von diesem sprechen wir. Die ursprünglichen Formen selbst
sind als magische und symbolische Zeichen längst vorhanden gewesen, ehe sie
in den Dienst schriftlicher Verständigung gestellt wurden.

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